Liebesdienste / Roman
Baumwollhemd würde bald gegen ein Leichenhemd ausgetauscht werden. Mit ein bisschen Glück.
Gloria hatte plötzlich den verstümmelten Leichnam ihres Bruders vor Augen, wie er in der Leichenhalle des Krankenhauses der Familie gezeigt worden war, eingewickelt in weiße Laken wie eine Mumie oder ein Geschenk. Gloria fragte sich, wer von ihren Eltern es für eine gute Idee gehalten hatte, die vierzehnjährige Tochter die Leiche ihres Bruders sehen zu lassen, ordentlich eingewickelt oder nicht.
Jonathan hatte einen Studienplatz und arbeitete im Sommer zwischen Schule und College in der Textilfabrik. In Glorias Kindheit gab es in ihrer Heimatstadt mehrere Textilfabriken, jetzt war da keine mehr. Einige waren abgerissen worden, aber die meisten wurden in Wohnungen und Hotels umgewandelt, eine in eine Kunstgalerie und eine andere in ein Museum. Dort führten Exfabrikarbeiter den Besuchern die Arbeiten vor, die sie in der Vergangenheit, die jetzt offiziell Geschichte war, verrichtet hatten.
In der Woche bevor er starb hatte Jonathan Gloria in die Fabrik mitgenommen. Er war stolz, dass er »Männerarbeit« machte. Die Fabrik war nicht dunkel und satanisch, wie sie es sich beim Absingen von »Jerusalem« auf Schulversammlungen vorgestellt hatte, sondern sie war voller Licht und groß wie eine Kathedrale, eine Hymne auf die Industrie. Winzige Wollfasern und -wölkchen schwebten durch die Luft wie Federn. Und der Krach! Der »rasselnde, rüttelnde Weberschiffchenlärm« – sie hatte später ein Gedicht »im Stil von Gerard Manley Hopkins« für die Schülerzeitschrift geschrieben in der Hoffnung, dass es den Schmerz ein wenig lindern würde, aber das Gedicht war schlecht (»wollgefleckte weiße Luft«) und kam aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen.
Nach Jonathans Tod war die Rede davon gewesen, Anzeige zu erstatten – alle möglichen Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften waren in der Fabrik missachtet worden –, aber es ging nie über Absichtsbekundungen hinaus, und Glorias Eltern fehlte der Biss, die Sache zu verfolgen. Ihre (kürzlich verstorbene) Schwester war damals zwanzig und stahl ihrem Bruder die Schau, indem sie in Jeans und einem schwarzen Polohemd zu seinem baptistischen Begräbnis erschien. Gloria hatte die Haltung ihrer Schwester uneingeschränkt bewundert.
Gloria war nur noch einmal in einer wahren Industriekathedrale gewesen, bei einem Schulausflug in die Fabrik von Rowntree in York, wo die Klasse über jeden Produktionsschritt staunte, angefangen von etwas, was wie kupferne Betonmischer aussah, in denen die Smarties hin und her geschleudert wurden, bis zum Packraum, in dem Frauen Schleifen um Schokoladenschachteln mit (ja) Kätzchen darauf banden. Am Ende der Tour bekamen sie vom Ausschuss geschenkt, und Gloria kehrte triumphierend nach Hause zurück mit Dutzenden zweifingriger Kitkats, die wie Jonathan von den Maschinen verstümmelt worden waren.
Sie nahm das Handy aus Grahams Jackentasche. Was hatte Maggie Louden gestern Abend gesagt?
Ist es erledigt, ist es vorbei? Bist du Gloria los? Bist du die alte Schachtel los?
War sie das – eine alte Schachtel? Maggie Louden war weit über vierzig, und sie wäre selbst bald eine alte Schachtel.
Der Akku des Handys war leer (mehr oder weniger wie der seines Besitzers). Grahams Anzug gehörte eigentlich in die Reinigung, aber wozu die Mühe? Sollte er sterben, würde sie alle seine Anzüge in den Oxfam-Laden in der Morningside Road bringen, außer dem, den er bei seiner Beerdigung tragen würde. Der hier wäre gut genug, ein bisschen Ausbürsten und Bügeln, sinnlos, etwas reinigen zu lassen, was in der Erde verfault.
Sie steckte Grahams Handy in das Ladegerät in der Küche und tippte gewissenhaft eine Nachricht für Maggie:
Bin in thurso rufe morgen an g
– sie war ziemlich sicher, dass Graham nicht auf Interpunktion und Grammatik achten würde –, änderte sie jedoch um in,
Tut mir leid liebling bin in thurso rufe morgen an g,
und entschloss sich zu einer dritten Version:
Tut mir leid liebling bin in thurso kein netz hier ruf nicht an melde mich morgen g.
Wenn Gloria an York dachte, dann daran, dass die Stadt nach Schokolade roch, wohingegen sie aus einer Stadt stammte, in der es nach Ruß roch. Natürlich konnte man Rowntree heute nicht mehr besichtigen, weil es einem multinationalen Konglomerat gehörte, das niemanden mehr reinließ. Jetzt, da ihre Schwester tot war, war Gloria der einzige Mensch, der sich noch an den Bruder erinnerte. Es war
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