Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
wiederzusehen. Ich möchte mich mit Ihnen auf das Abenteuer des Kennenlernens einlassen, möchte das schlummernde Potential unserer Verbindung wekken. Schreiben Sie mir einmal? Vielleicht würden Sie mich sogar besuchen? Es wäre für mich der erste Lichtblick seit vielen Jahren. Seien Sie versichert, daß ich weiß, was ich Ihnen zumute. Und es kommt noch schlimmer: Leider kann ich den Zeitpunkt des Besuchs nicht einmal Ihrer Spontaneität überlassen, denn es muß ein Antrag vom Häftling gestellt werden, mit Tag und Uhrzeit. Ich habe vorsorglich einen Antrag für Mittwoch, den 8. September, 16:00 Uhr gestellt. Er liegt an der Außenpforte bereit. Das läßt sich jederzeit ändern, bitte fühlen Sie sich dadurch nicht bedrängt .
Voller Hoffnung, Ihr Lukas Feller
Mathilde las den Brief auf der Kante des Küchenstuhls sitzend. Ihr war heiß geworden, und das lag nicht daran, daß sie noch Hut und Trenchcoat trug.
… mir ist, als würden Sie eine Erinnerung in mir wachrufen, als hätte ich Sie immer schon gekannt. Der Satz hatte sie berührt. Hatte sie nicht ganz ähnlich empfunden? War da nicht etwas auf unerklärliche Weise Vertrautes zwischen ihnen? Eine Seelenverwandtschaft? Und mußte sie etwa nicht ständig an ihn denken?
Trotzdem, ein Besuch im Gefängnis? Ging das nicht alles ein bißchen zu schnell?
Sie machte sich eine Kanne Tee, setzte sich an den Computer und recherchierte im Internet über Lukas Feller. Sie stieß auf kommerzielle Links zu seinem Buch. Adrenalin ist die sauberste Droge , wurde daraus zitiert. Das sagte er angeblich zu seinen Klienten, ehe er sie in die Wildnis jagte. Über seine Seminare hieß es an einer Stelle: Anhand von Beispielen aus der Natur wird mit alltäglichen »Standardsituationen« experimentiert. Wie geht die Natur mit Streß um, was hält die Natur von Teamarbeit, wie reagiert sie auf Mitbewerber …
Womit sich alles Geld verdienen läßt, dachte Mathilde. Über den Mordfall fand sie nichts. Viele Zeitungen und Magazine hatten Mitte der Neunziger noch keine Internetpräsenz gepflegt, und selbst wenn, es gab im World Wide Web keinen Platz, an dem alte Online-Versionen gespeichert wurden. Verärgert schaltete Mathilde den Computer aus. Natürlich mußte es auch noch richtige, altmodische Zeitungsarchive geben. Sie würde morgen, während ihrer Freistunde, bei einigen telefonisch nachfragen.
Unzufrieden über den unfreiwilligen Aufschub des Problems machte sie sich ein Brot mit Hüttenkäse und Tomatenscheiben zurecht. Es läutete an der Wohnungstür. Hoffentlich nicht ihre Flurnachbarin Frau Bolenda. Das Gute-Laune-Monster nahm ab und zu Paketsendungen für sie entgegen.
»Gratuliere! Das hast du fein hingekriegt!«
Wie ein Eisbrecher schob sich ihre Mutter an Mathilde vorbei in den Flur.
»Was machst du hier? Ich meine, warum hast du nicht angerufen?«
»Muß man sich avisieren? Wer bist du, die Garbo? Ist denn kein Mensch mehr spontan heutzutage?« Franziska ging in die Küche und ließ sich wie Fallobst auf einen Stuhl plumpsen. Ihre Augen waren rot unterlaufen, und es kam Mathilde vor, als habe sie eben eine Alkoholfahne gestreift. Franziskas Haar, früher schwarz glänzend wie Klavierlack, wirkte stumpf. Ein grauer Streifen war an der Stelle zu sehen, die Mathilde ihren »Hippieschlampenmittelscheitel« nannte.
»Was ist los?« Mathilde setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch und schob dabei verstohlen den Brief unter die Zeitung.
»Was los ist? Herbert ist ausgezogen.«
»Herbert? Ach so, der Zeck. Der sollte doch ohnehin nur vorübergehend bei dir wohnen, oder nicht?«
»Er hat mich verlassen.« Franziska schleuderte ihrer Tochter einen anklagenden Blick entgegen.
»Bin ich etwa daran schuld?« fragte Mathilde mokant.
»Ja!«
»Was? Wieso denn ich?«
»Weil du deinen Mund nicht halten konntest! Du hast ihm ja neulich unbedingt erzählen müssen, daß das Haus dir gehört. Hoffentlich bist du jetzt zufrieden.«
»Sei mir nicht böse, aber du kannst von mir nicht erwarten, daß ich deinen Kummer wegen dieses … Subjekts teile«, sagte Mathilde. Es war ihr unbegreiflich, wen manche Menschen ins Haus ließen, nur um nicht allein zu sein.
»Typisch! Du hast denselben unerklärlichen Dünkel wie deine Großmutter!« Schnaubend blies sich Franziska eine Haarsträhne aus der Stirn und murmelte vor sich hin: »Kam nach dem Krieg hier an, mit nichts als einem Russenkegel im Leib, aber immer die Nase hoch oben.«
Es waren die immer gleichen
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