Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
braunes Kleid, das ihr schon immer gut gestanden hatte, und ihr Profil hinter dem Rolladen war hübsch, die Scheidewand schmeichelte ihr, aber Tante Tirza nicht, die saß schwer und klumpig auf dem Stuhl, und er, der König der Kater, sah in einem Moment ganz zahm aus, im nächsten wie ein ungebändigter Wildkater, sogar durch den Rolladen fühlte ich seine ungeheure Anziehungskraft, und die Stuhllehne, auf die er sich stützte, sah wie ein langer erhobener Schwanz aus.
Es war mir angenehm, sie so ohne Spannung und Bitterkeit miteinander reden zu hören, ich fühlte mich wie ein Mädchen, deren Eltern sich wieder versöhnt haben und die deshalb ruhig schlafen kann, in dem Bewußtsein, daß sie am nächsten Morgen beide gut gelaunt zu Hause vorfinden wird, und tatsächlich schlief ich ein, ohne es zu wollen, schließlich hatte ich unbedingt die Aufführung verfolgen wollen, die meinetwegen stattfand, wieso schlief ich dann plötzlich ein, und als ich aufwachte, war ich wütend, weil ich das Ende verpaßt hatte und nie erfahren würde, was genau ich verpaßt hatte, es gab niemanden, den ich fragen konnte, keine anderen Zuschauer, und die Terrasse war leer, sogar die Sonne war nicht mehr zu sehen, auch den runden Tisch konnte ich nicht entdecken, und ich fing schon an zu zweifeln, ob alles, was ich gesehen und gehört hatte, wirklich passiert war, nur die Kissen hinter meinem Rücken bewiesen, daß ich versucht hatte, etwas zu betrachten, und ich konnte mir nicht verzeihen, daß ich eingeschlafen war, einen Moment bevor die Wahrheit ans Licht gekommen war, vor meinen geschlossenen Augen.
Neben dem Bett, auf der kleinen Kommode, sah ich das runde Tablett mit der roten Thermoskanne, einem Glas Orangensaft und einem frischen Brötchen, ich wollte mir Kaffee eingießen, aber er hatte vergessen, eine Tasse mitzubringen, immer fehlte etwas, und diesen Mangel auszugleichen wurde zur Hauptaufgabe. Ich versuchte, direkt aus der Thermoskanne zu trinken, aber ich bemerkte in der runden Öffnung den kühlen Geschmack von Parfüm oder von einem Lippenstift, und mir fiel ein, wie Joséphine am letzten Morgen ihres Lebens ihre Lippen glänzendrot angemalt hatte und wie ihre Lippen aus dem verzerrten Gesicht geleuchtet hatten, als gehörten sie nicht dazu, als wollten sie sich vor dem Schicksal dieses Gesichts retten, und vielleicht war ihnen das am Schluß auch gelungen, vielleicht hatten sie sich hierhergerettet, in diese kleine glänzende Thermoskanne, zwei zarte Lippen, fast ohne Sinnlichkeit, so zart waren sie, Alpenveilchenlippen, die jetzt in einem Meer von Kaffee schwammen, wie Teigtäschchen in der Suppe, und wenn ich die Thermoskanne ansetzte, würden sie sich mit meinen Lippen treffen, würden in meinen Mund rutschen und nie wieder herauskommen.
Erschüttert starrte ich in die Thermoskanne, der heiße Dampf brannte in meinem Gesicht und verbarg die kleine Öffnung, da lief ich ins Badezimmer und goß den Kaffee langsam ins Waschbecken, um zu sehen, ob sich etwas darin befand, der braune duftende Kaffee floß durch das weiße Becken und verschwand in dem durstigen Abfluß, bis der Strahl zu einem Tröpfeln wurde, das schließlich auch aufhörte. Ich bückte mich und betrachtete prüfend die umgedrehte Kanne, versuchte, in ihr glänzendes Inneres zu spähen, aber ich konnte nichts sehen, ich füllte sie mit Wasser und kippte es ebenfalls aus, sah zu, wie es mir zuliebe bräunlich wurde, als es die letzten Reste des trüben Kaffees wegspülte, danach ging ich wieder ins Bett, trank verzweifelt den Orangensaft und dachte daran, daß ich fast Kaffee hätte trinken können, und wie weit war ich jetzt von dieser Situation entfernt, so wie ich die Wahrheit fast erfahren hätte.
Sie hätten mir fast ihre Jugend gezeigt, ihre Vergangenheit, diese Vergangenheit, die einen Moment lang aussah wie eine zahme Katze, im nächsten wie ein wildes furchtbares Tier, genau wie er, diese Vergangenheit, die mir in den Nächten zujammerte und nach Änderung schrie, und ich, ausgerechnet ich, sollte sie ändern, wo ich doch selbst in der Gegenwart kaum etwas bewegen konnte, ganz zu schweigen von der Zukunft, ausgerechnet ich sollte die Vergangenheit reparieren, denn weil sie kaputt war, war ich kaputt, und nur wenn sie heil gemacht wurde, konnte auch ich heil werden, und wenn es für sie keine Hilfe gab, gab es auch für mich keine. Diese ruhigen Sätze, die vom Balkon an mein Ohr gedrungen waren, hatten mir bewiesen, wie richtig alles sein
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