Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
statt jetzt im Hilton Astoria in Istanbul zu frühstücken und auf den Bosporus hinauszublicken und auf die goldene Brücke, die Europa und Asien verbindet, schaust du auf herzförmige Gitterstäbe und jammerst vor Hunger.
Ich dachte daran, daß er mich in der Nacht Süße genannt hatte, und es war mir ein bißchen eklig, was glaubt er, wer ich bin, dachte ich, und dann dachte ich, er ist nicht wichtig, er sieht das, was du ihm zeigst, so, wie du dich verkaufst, nimmt er dich, und du hast selbst entschieden, einen derart hohen Preis zu bezahlen, um dich so billig zu verkaufen, umsonst, du bist sogar bereit, dem etwas zu bezahlen, der zum Kaufen bereit ist, und wieder versuchte ich, Joni anzurufen, und wieder wurde nicht abgenommen, aber es fiel mir trotzdem schwer zu glauben, daß er ohne mich gefahren war, lieber Joni, trauriger, jämmerlicher Joni, Joni, mein Waisenkind, jetzt teilen wir alle das gleiche Schicksal, Joni, der seine Mutter verloren hatte, ich, die ich meinen Bruder verloren hatte, und Arie, der seine Frau verloren hatte, wir waren eine große bedauernswerte Familie.
Ich überlegte, wer von unserer Familie wohl am bedauernswertesten war, am Anfang glaubte ich, es sei Joni, der allein in die Flitterwochen gereist war, der Witwer führte schon während der sieben strengen Trauertage ein wildes Liebesleben, während der Bräutigam in seinen Flitterwochen allein war wie ein Hund, aber wer allein wegfährt, kommt nicht zwangsläufig allein zurück, und unsere verspäteten Flitterwochen konnten leicht zu Jonis vorgezogenen Flitterwochen mit einer anderen werden, die er dort kennenlernte, und das schien mir fast unabwendbar, es ergab sich folgerichtig aus den ungeschriebenen Gesetzen des Liebeslebens, und nach diesen Gesetzen würde ich am Ende die Bedauernswerteste sein, denn wer auch nur eine Scheibe Brot mehr bekommen möchte, als er hat, bleibt am Ende mit leeren Händen zurück.
Ich sah mich erschrocken um, eine Gefangene dieser Gesetze, gefangen wie die Ratten meines Vaters in seinem dunklen Labor, überlegte ich, wie ich ihnen entkommen könnte, wie ich meinem Schicksal ausweichen könnte, als wäre das Schicksal der Ball bei einem Kinderspiel, der Ball, der einen nicht treffen durfte, wer vom Ball getroffen wird, muß ausscheiden, und ich blickte auf die Uhr, um zu sehen, wie weit Joni sich schon von mir entfernt hatte, und es war noch immer neun, was mir nicht logisch vorkam, denn auch wenn die Zeit langsam verging, so verging sie doch, das war, alles in allem, ein Trost, und da kapierte ich, daß sie stehengeblieben war, meine Uhr, die Stimmungen gegenüber schon immer empfindlich gewesen war, war bestimmt wegen der Schüttelei in der Nacht kaputtgegangen. Nun fühlte ich mich noch verlorener, ohne zu wissen, wie spät es war und ob ich jetzt von einem Frühstück oder von einem Mittagessen träumen sollte und wie weit ich noch von dem Zeitpunkt entfernt war, an dem alle gehen würden, ich glaubte, es sei üblich, den Trauernden zwischen zwei und vier Uhr Ruhe zu gönnen, aber vielleicht würde die Trauerfamilie, wenn die anderen gegangen waren, es vorziehen, hier auszuruhen statt ins Hotel zu gehen, man mußte Mitleid mit der verwaisten, hellblaulockigen Mutter haben. Ich fragte mich, ob sie zu einem Frisör ging oder ob sie alles allein machte, mit ihren dünnen Händen, und ich erinnerte mich an den dünnen Körper Joséphines, mit welcher Leichtigkeit sie in die Grube gerutscht war, wie sie fast jauchzend die Arme hochzuwerfen schien, und ich überlegte, wie sie wohl als Kind gewesen war, bestimmt saß ihre Mutter jetzt draußen und erzählte jedem, der es hören wollte, was für ein Kind sie gewesen war, wie begabt und wie wohlerzogen, sie spielte Klavier und sagte mit Betonung Gedichte von Baudelaire oder Molière auf, egal von wem, aus ihrem blühenden Mund hörte sich alles gleich süß an, und tatsächlich war sie auch gestorben wie eine Blume, sie verdorrte, verwelkte, ließ ihre Blätter fallen, und das war’s, ab in den Mülleimer.
Schon immer hatten mich welkende Blumen deprimiert, wenn sie ihre trockenen Blüten über den Krug sinken ließen, der einen abstoßenden Geruch nach fauligem Wasser verströmte, wenn sie einem das Gefühl von Vernachlässigung gaben, ein leerer Krug war wirklich schöner anzuschauen als einer mit einem welken Blumenstrauß. Wenn Joni mir manchmal einen Blumenstrauß brachte, hatte ich immer gesagt, es sei schade um seine Schönheit, denn er würde in
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