Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
fort.
Kittys allerletzte Illusion fiel in sich zusammen. Es war sechs Uhr und sie hatte Robert seit einer Woche nicht mehr gesehen.
Die Hoffnung flammte wider alle Vernunft noch einmal ganz kurz in ihr auf, als sie über den Parkplatz zu ihrem Auto ging. Irgendwann, vor einer Ewigkeit, war sie Robert dort begegnet. Er war in seinem Wagen heran gebraust, sah sie aber gar nicht und fuhr deshalb grußlos an ihr vorbei, um direkt vor dem Eingang zum Hauptgebäude zu halten.
An diesem Abend geschah nicht einmal das.
Kitty brauchte heute einen Drink, um den Heimweg schaffen zu können. Vielleicht waren es auch zwei oder drei, die sie trank, jedenfalls dämmerte es bereits, als sie nach Hause kam. Sie hoffte einen Augenblick lang, Roberts Schatten in einem parkenden Auto zu erkennen, doch es war weit und breit keiner zu sehen.
Auch die Stufen, die sie zur Eingangstür hinauf stieg und wo er ein einziges Mal gewartet hatte – natürlich nicht auf sie, sondern auf ihren Vater – waren leer.
Spätestens hier holte die große schiefergraue Trostlosigkeit Kitty erneut ein.
Die Luft war kalt für Mitte Mai, ohne jedes Versprechen für den nahenden Sommer. Ab und zu zwitscherte ein Vogel in der Krone der riesigen Zeder, die gleich am Eingang zum Friedhof stand, aber ansonsten lag, abgesehen vom gelegentlichen fernen Brummen eines Rasenmähers, kühle Stille über den Gräbern.
Sarah kam mit langen, eiligen Schritten den geharkten Weg entlang, ihr Rock wehte, über der leichten Bluse trug sie sicherheitshalber eine Jeansjacke, falls aus dem unfreundlichen Himmel über ihr doch noch Regen fallen sollte.
Sie ging energisch den schmalen Weg zwischen den Gräbern entlang, den Rücken kerzengerade, die Schultern hoch gezogen. Je näher Gregors Grabstelle kam, desto mehr musste sie sich zusammennehmen, stark sein, nicht ihretwegen, sondern für ihn.
Es hätte ihm nicht gefallen, wenn sie bei jedem Besuch an seinem Grab in Tränen ausgebrochen wäre.
Und dennoch musste sie heute einige Male schlucken angesichts der neuerlichen Erkenntnis, wie kurz und flüchtig das Leben war. Wie schnell es ausgelöscht werden konnte.
Dort vor seinem Grab spürte sie, wie der Schmerz in ihr hoch kam, den zu besiegen ihr noch immer nicht restlos gelungen war.
Besonders an Tagen wie heute war sie angreifbar, sensibler als die vielen Wochen vorher und fand dafür keine Erklärung.
Als sie die rote Rose sah, die auf Gregors Grabplatte lag, kehrte jedoch sofort ihre Sachlichkeit zurück. Sie verzog missbilligend den Mund, denn wer immer diese Rose hier ablegte – sie hatte inzwischen fünfmal eine auf dem Grab gefunden – Sarah würde sie nicht dort dulden. Sie wusste, dass das lächerlich, unbegreiflich und kleinlich war, dennoch tat sie es immer wieder. Sie nahm die Rose und warf sie weg.
Es war ihr längst klar, dass diese Geste nichts anders bedeutete als dass sie auch den toten Gregor wie zu Lebzeiten für sich alleine beanspruchte. Die Vorstellung, dass es möglicherweise irgendeine andere Frau gab, vielleicht sogar eine ehemalige Schülerin, die ihn genauso geliebt hatte wie Sarah, passte schlichtweg nicht in das Bild, das sich in ihr manifestiert hatte und an dem sie unerschütterlich festhielt.
Sie verharrte einen kurzen Moment, dann war ihre innere Einkehr aber schon wieder verweht, sie beugte sich herab, nahm die rote Rose und…
Ein kräftiges Räuspern hinter ihr ließ Sarah in der Bewegung inne halten. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um. Ihr gegenüber stand ein großer, kräftiger Mann, kahlköpfig und mit einem von allen Wettern gegerbten, hageren Gesicht. Er blickte Sarah sekundenlang schweigend an, dann schüttelte er missbilligend den Kopf.
„Sie wissen, dass das, was Sie da tun, verboten ist? Das könnte man als Grabschändung bezeichnen. Damit verstoßen Sie gegen die Friedhofsordnung und kann Sie teuer zu stehen kommen.“
Sarah wurde rot vor Verlegenheit, war allerdings nicht bereit, auch nur die geringste Reue zu zeigen.
Stattdessen erwiderte sie kühl: „Das ist mir egal. Ich will nicht, dass irgendjemand, den ich nicht kenne, auf diesem Grab Blumen ablegt. Das wäre auch nicht im Sinne des Verstorbenen gewesen.“
„Sind Sie eine Verwandte?“ wollte der Mann, zweifellos der Friedhofswärter, wissen.
„Jawohl“, log Sarah, ohne mit der Wimper zu zucken. „Und die Familie Becker hat mich beauftragt, hier regelmäßig nach dem Rechten zu sehen.“
Der Mann sah sie sekundenlang stumm an. „Kann es
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