Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
verlassen.
Nicht Hals über Kopf, aus einer seiner Launen heraus.
Und auch nicht gänzlich ohne Worte.
Er war hier gewesen, begriff Jessica. Irgendwann am Abend dieses 8. Mai war er in ihrer gemeinsamen Wohnung gewesen, hatte diesen einen Satz auf einen Zettel gekritzelt, das Schlüsselbund auf die Kommode gelegt und war wieder gegangen.
Hatte das Licht in allen Räumen ausgeschaltet, die Tür nach draußen geöffnet und hinter sich geschlossen.
Und er hatte alles mitgenommen.
Jessicas Träume, Erinnerungen, ihr ganzes bisheriges Leben.
Nur die Stille, diese jähe, unsägliche Stille in ihrem Kopf, die hatte er ihr gelassen. Ihre Hände zitterten nicht, als sie den Klebestreifen löste, der den Zettel mit Julians letzten Worten an sie am Spiegel festhielt.
„Jess, ich verlasse Dich. Es tut mir nicht leid. Jul.“
Mehr als diese zwei Sätze hatte er für sie nicht übrig.
Ihr wurde schwindelig, weich in den Knien. Plötzlich war alles schwarz um sie, doch nur für Sekunden, dann war es schon vorüber, sie fühlte sich seltsam leicht, ihre Gedanken waren klar und durchsichtig, wie sie es bisher noch nie erlebt hatte.
Aber als sie sich dann umdrehte, um in die Küche zu gehen und etwas zu trinken, fühlte sie einen jähen, scharfen Stich im Unterleib, der sie zwang, stehen zu bleiben, sich zusammen zu krümmen und aufzuschreien.
Der Schmerz war so unerträglich, dass sie sich auf den Fußboden legen musste und mit beiden Händen ihren Bauch hielt.
Im nächsten Moment wurde der Schmerz schwächer, stattdessen konnte sie unter ihren Händen das Blut fließen spüren, das aus ihr heraus floss und da wusste sie, was es
war.
„Oh Gott, oh Gott“, schrie sie so laut sie konnte, als das Entsetzen sie zu lähmen drohte.
Und diese Worte verliehen ihr eine plötzliche, unerwartete Kraft. Sie suchte in ihren Rocktaschen nach ihrem kleinen Telefon, fand die Nummer sofort, die ihr in diesen angstvollen Minuten als einzige einfiel und ahnte die ganze Zeit, dass sie gerade das Kind verlor, das sie von Julian erwartete und von dem sie ihm heute Abend hatte erzählen wollen…
Ilka besuchte Gregor Becker jede Woche.
Jedes Mal legte sie eine rote Rose auf das Grab.
Einige Male hatte sie versucht, mit dem toten Gregor zu reden, ihm die Situation zu erläutern, doch außer einer großen Stille hatte sie nichts hören können, sodass sie inzwischen lieber schwieg, wenn sie dort stand.
So wie sie es auch an diesem hellen, warmen Frühlingstag tat, nachdem sie die Rose abgelegt hatte. Natürlich wusste sie, dass Sarah, wenn sie demnächst auf eben diesem Fleck stand wie jetzt Ilka, die Rose ohne zu zögern nehmen und hinter die Hecke werfen würde.
Aber das störte Ilka nicht und vor allem hinderte es sie nicht, trotzdem immer wieder einmal in der Woche hierher zu kommen, mit der Rose – so, wie sie es versprochen hatte.
Sie stand da, schaute mit abwesendem Blick auf den in die marmorne Grabplatte eingemeißelten Namen und gleichzeitig auf ihr Leben. Auf das, was hinter ihr lag und das, was kommen würde.
Hier war sie, und sie lebte. Und immer wieder rauschte unaufhaltsam und unablässig ihre Vergangenheit heran, überflutete sie wie der Wind an jenem Tag, als Gregors Ferienhaus auf Sylt abgebrannt war, das er nach seinem Tod Sarah vererbt hatte.
Und meistens, wenn sie alle ihre Missgeschicke, ihr Unglück und Verirrung überschaute, dann weinte sie ein wenig vor Schmerz über ihre verlorene Vergangenheit.
Lediglich die Tatsache, dass sie hier am Grab tat, was sie zu tun versprochen, ein Versprechen gegeben hatte, das sie niemals brechen würde, verlieh ihr Sicherheit.
Sie wollte den alten Schmerz schon längst nicht mehr, wollte unsentimental, rational, sich ihrer selbst sicher fühlen.
Es blieb ihr ja keine Wahl. Sie musste zurück in das Leben, vor dem sie fast zwei Jahre lang geflohen war. Doch nirgendwo schien es einen Hafen, einen Ankerplatz für sie zu geben. Jetzt, während der Übergangszeit von der alten Ilka zur neuen, quälten sie Zweifel und Schmerz, Schuldgefühle und Angst und natürlich auch Reue.
Egal, sagte sie zu Gregor Becker, während sie die rote Rose auf der Grabplatte noch ein wenig schräg legte: Sie würde es überwinden.
Und mit dem Blick auf die Jahreszahlen, die Gregors Geburt und seinen Tod markierten, weinte sie ein bisschen.
Aber nicht lange.
Paul Cornelius war das, was man in diesen Zeiten eine Heuschrecke nannte: Er kaufte bankrotte Firmen für einen günstigen Preis auf,
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