Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
die Innenstadt, um auf einem Parkplatz nach dem alten Morris zu suchen, den sie wieder irgendwo abgestellt und vergessen hatte.
Nachdem sie den Wagen endlich gefunden hatte, saß sie lange hinter dem Lenkrad des Autos, tat nichts, sondern hatte die Hände im Schoß gefaltet und blickte durch die Windschutzscheibe in die abendliche Dämmerung, die ganz allmählich zur Dunkelheit wurde.
Sarah wusste nicht, wie lange sie so gesessen und vor sich hin gestarrt hatte, ohne etwas zu sehen. Irgendwann war es dann genug.
Sie nahm ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte eine Nummer. Als sich jemand meldete, antwortete sie sofort und gab sich dabei alle Mühe, ihre Stimme entschlossen klingen zu lassen:
„Julian? Sarah hier. Ich fliege übermorgen. Kannst du kommen? – Ja, das wäre schön. Ich möchte nicht, dass Robert alleine ist, wenn er… also, wenn ich nicht mehr da bin. – Das ist gut. – Danke. Danke, dass ich mich auf dich verlassen kann. – Ja, ich melde mich. Sobald ich angekommen bin, sende ich eine Mail… Auf Wiedersehen, Julian. – Wir wollen jetzt nicht auf den letzten Metern rührselig werden, okay? Ich bleibe schließlich nicht für immer und ewig fort…“
In einem amerikanischen Film wäre ihr Abschied von Robert die letzte Steigerung, die letzte Zuspitzung der Handlung gewesen.
Doch hier handelte es sich um das wirkliche Leben, in dem sich immer wieder die erschütterndsten Dinge ereigneten, ohne dass ein Mensch etwas davon wusste.
Die Leute da draußen stutzten nur kurz, schauten hin – und machten weiter: Sie aßen und tranken, lasen ihre Zeitung, gruben ihren Garten, spülten Geschirr, denn – gewöhnt an unzählige Banalitäten – waren sie für fast nichts sonst noch empfänglich.
Jedenfalls erlebte Sarah es so.
Aber lag das vielleicht doch an ihr?
Ihr mangelte es an jeglichem Sinn für Dramatik. Stattdessen wurde sie von einem starken Willen zum Selbstschutz und damit einer Panzerung beherrscht, sodass sie meistens erst mit großer Verspätung bemerkte, wenn ihre Seele eine Wunde davon getragen hatte.
Sarah sah darin ein groteskes Handicap. Da sie unfähig war, in kritischen Lebenssituationen dramatische, bühnenreife Töne anzuschlagen, fühlte sie sich jedes Mal schuldig angesichts ihrer Reaktion, die – wenn es denn eine gab – zur falschen Zeit kam und so ein Signal von Illoyalität, ja, Hartherzigkeit zu sein schien.
Das war erbarmungslos deutlich geworden, als sie erfuhr, dass sie nie ein Kind haben würde.
Völlig emotionslos hatte sie die Diagnose zur Kenntnis genommen. Da war kein Gefühl gewesen, außer dem einer unbestimmten Schuld. Wie seltsam, dass Robert wenig später seinen Wunsch nach einem Kind verkündete, während ihr, wieder abgeschnitten von ihren eigenen Empfindungen, der Mut fehlte, ihm die Wahrheit zu gestehen.
Danach hatte sich ganz allmählich eine unerträgliche Fremdheit zwischen ihnen aufgebaut, die seitdem stetig zunahm.
Das Wissen um seinen Seitensprung mit Kitty Cornelius tat ein Übriges dazu, dass sie sich weit und immer weiter voneinander entfernten.
Sarah konnte nicht darüber reden. Nicht mit Robert. Mit jedem anderen Menschen wäre es ihr leichter gefallen, doch nicht mit dem Mann, den sie liebte.
Es war die Angst davor, dass er Worte für etwas fand, das sie nicht hören, nicht wissen, sich in ihren schlaflosen Nächten nicht vorstellen wollte.
Die Bilder, die in ihrem Kopf unterwegs waren, seitdem sie von Roberts Treuebruch wusste, genügten ihr völlig. Sie musste davon nicht noch mehr in ihrem Innern speichern und bis ans Ende aller Zeiten mit sich herum schleppen.
Es wäre nur eine weitere hässliche Last gewesen.
Am Tag vor ihrer Abreise setzte sie sich abends in ihrem
Arbeitszimmer noch einmal auf das alte Sofa, um auf einer langen Liste Punkt für Punkt als erledigt abzuhaken.
Dann allerdings geschah etwas, worauf sie nicht vorbereitet war, denn noch mittendrin in ihren Überlegungen und Planungen für den nächsten Tag, hörte sie Robert nach Hause kommen. Darauf war sie nicht gefasst gewesen. Stattdessen hatte sie sich darauf verlassen, dass Robert wie üblich erst am Freitagabend nach einer langen, anstrengenden Arbeitswoche heimkehren würde.
Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, gerade so, als wäre sie noch das kleine Mädchen, das die Mutter dabei ertappte, wie es Süßigkeiten aus dem Küchenschrank stahl.
Unwillkürlich hielt sie den Atem an, lauschte
Weitere Kostenlose Bücher