Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
niemand erreichbar zu sein, wo sie auch immer sein mochte – in dieser ersten Woche hörte er nicht auf, sie zu suchen.
Er suchte sie überall und jederzeit. Trieb sich in der City herum, vormittags, nachmittags, wartete, redete mit Menschen, die er kannte und seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte, aber nun tat er so, als wäre er gerne mit ihnen zusammen, wartete ab, ob vielleicht Sarahs Name fiel, zögerte, bummelte weiter und hoffte immer, dass sie plötzlich auftauchte.
Seine Sehnsucht wurde nicht etwa mit jedem Tag schwächer, sondern wuchs und wuchs, bis er nichts anderes mehr fühlte als diesen Hunger nach ihr. Er hatte gleichzeitig Angst, nach Hause zu gehen, vor allem in Erinnerung an die letzte Nacht mit Sarah, da er sich so sicher gewesen war, dass jene Nacht ein neuer Anfang für sie beide war. Auf den Gedanken, dass sie sich endgültig von ihm verabschiedete, während sie in seinen Armen lag, wäre er nie gekommen.
Und jetzt beherrschte ihn vor allem die Angst, dass Sarah nicht zurückkommen würde. Nie mehr.
Julian hörte seinen Vater manchmal Selbstgespräche führen, denn Robert stritt immer öfter laut mit sich, zerpflückte alles, was Sarah ihm gegeben hatte, schüttelte die Bruchstücke, vor denen er nun stand, ließ sie auf Stein klingen, um zu prüfen, ob sie echt waren oder doch nur ein hässlicher Traum.
Sarah hatte geschrieben, dass sie gerne alles für ihn gewesen wäre – und er? Er war eingebildet und restlos von sich und seinen Gefühlen überzeugt gewesen. So unerträglich selbstsicher.
Und jetzt graute ihm bei der Vorstellung, dass Sarah nicht wiederkam.
Wie die meisten Männer war er von der Angst beherrscht gewesen, sich zu geben und hatte gefürchtet, anzunehmen, was Sarah ihm mit ihrer Liebe anbot.
Und, ach, wie typisch männlich war die Art und Weise gewesen, mit der er versucht hatte, die Katastrophe aufzuhalten:
Dieses Hinauszögern, sich vor der Entscheidung drücken, ad-acta-legen und fest daran glauben, dass es funktionierte. Dabei ließ sich sein Verhalten Sarah gegenüber in einem einzigen kurzen Satz erklären:
Er war ein Feigling.
Und so, dem Zusammenbruch nahe, inmitten seiner Monologe, mit denen er nicht aufhören konnte, wenn er erst einmal damit aufgefangen hatte, half er sich zunächst noch mit Alkohol, um aber ziemlich bald zu erkennen, dass ihn das nicht weiter brachte.
Julian hatte ihn nicht getadelt wegen seines Whiskykonsums, registrierte aber mit Erleichterung, als Robert von einem Tag zum anderen aufhörte zu trinken.
So kehrte Robert schließlich in sein bisheriges Leben zurück.
Er gab die ziellosen Wanderungen durch die Innenstadt auf, weil die Vernunft ihm sagte, dass er Sarah hier nicht finden würde. Stattdessen meldete er sich bei Paul Cornelius in der Firma zurück, entschuldigte sich für seine Unzuverlässigkeit während der vergangenen Wochen und meinte, dass er absolutes Verständnis dafür hätte, wenn Paul ihn jetzt vor die Tür setzte.
Cornelius dachte darüber einen Moment lang nach, seufzte einmal tief auf und meinte: „Wir haben ja alle mal unsere Lebenskrisen, nicht wahr? Bei dir war ich allerdings am wenigsten darauf vorbereitet. Also, geh wieder an die Arbeit, das hat schon immer geholfen, wenn das Schicksal uns beutelt. Noch etwas, Robert: Sei darauf vorbereitet, dass Elisabeth dich demnächst anrufen und dir ein paar sehr unangenehme Fragen stellen wird. Sie möchte vor allem wissen, wo ihre Tochter, ihr einziges Kind hin verschwunden ist.“
„Das wüssten wir alle gerne“, zeigte Robert sich erstaunlich gefasst. „Tatsache ist, dass Sarah weder Adresse noch Telefonnummer hinterlassen hat. Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhält.“
Cornelius schwieg sekundenlang. Als er dann sprach, klang seine Stimme müde. „Es tut mir leid, Robert. Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Ihr seid doch immer so glücklich gewesen.“
Robert beendete das Gespräch.
Wieso mussten alle, die in diesen Tagen seinen Weg kreuzten, meistens sogar nur zufällig, ihm immerzu versichern, wie leid ihnen „das alles“ tat? Überhaupt schien die halbe Stadt Bescheid zu wissen über Sarahs Trennung von ihm. Wann immer er irgendwelchen – meistens nur flüchtigen – Bekannten begegnete, drückten sie ihm mit todernster Miene die Hand, als wäre jemand gestorben.
Dennoch wäre Robert sofort und jederzeit die Wette eingegangen, dass nicht ein Einziger – auch nicht Cornelius – auch nur annähernd eine Ahnung hatte von dem,
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