Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
denken, dann hob sie den Kopf und präsentierte eine unerwartete, totale Veränderung ihres Gesichtsausdrucks. Sie leuchtete von innen heraus. Wie sie das machte, blieb ihr Geheimnis, doch prompt nörgelte der Regisseur:
„Nicht so verkrampft! Entspannen Sie sich. Bleiben Sie locker, aber ändern Sie trotzdem Ihren Blick, das Gesicht – Sie verstehen?“
„Ja, ich verstehe“, erwiderte Verena, aber sie zitterte immer noch. Sie zitterte die ganze Zeit. Und dieses Zittern wurde stärker. Es wuchs und wuchs, sodass sie irgendwann das grässliche Gefühl hatte, in absehbarer Zeit die Beherrschung über ihren Körper zu verlieren.
Es war so unendlich wichtig, dass sie diesen Job bekam. Nie zuvor war etwas so wichtig gewesen. Sie dachte an ihre Miete, die sie in diesem Monat noch nicht bezahlt hatte, die neuen Schuhe, die sie dringend brauchte und etliches mehr.
Aber sie begann noch einmal von vorne. „Double Take“ hieß das im Filmgeschäft, was man von ihr erwartete. Ein ganz besonderer Gesichtsausdruck. Die ganze Palette von Niedergeschlagenheit über fassungsloses Staunen bis hin zu strahlender Seligkeit.
Sie hatte es ungefähr eine Million mal gezeigt und absolut beherrscht in ihrem Leben als Schauspielerin, aber hier und jetzt, während ihr der Schweiß in kleinen Rinnsalen über den Rücken rann, gelang es ihr einfach nicht.
Der Regisseur ließ sie die kurze Szene ein halbes Dutzend Mal wiederholen, verlor jedoch allmählich die Geduld, während Verena irgendwann begriff, dass sie sich zu sehr bemühte. Von Lockerheit konnte schon längst keine Rede mehr sein, sie strengte sich an wie ein Sportler, der um jeden Preis das Ziel erreichen wollte, und das war falsch.
„Das reicht. Danke, Frau Hartung. Die Nächste, bitte!“
Und während Verena so geräuschlos wie möglich aus dem Studio schlich, hörte sie den Regisseur ärgerlich sagen:
„Mein Gott, bringt mir doch endlich mal Eine, die wenigstens einen Hauch von Professionalität hat!“
Zurück auf dem Bürgersteig, wo das Pflaster noch immer glühte, weil die Hitze nicht schwächer geworden war, lehnte Verena sich gegen die Schaufensterscheibe irgendeines Geschäfts. Sie fühlte sich ausgelaugt, kam um vor Durst und hätte gerne geweint, doch nicht einmal dazu hatte sie noch die Kraft.
Jemand trat zu ihr, hielt ihr ein Glas Mineralwasser hin.
„Frau Hartung? Verena Hartung? Sie sind es wirklich! Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie mal kennen lernen würde. Hier, trinken Sie! Sie sind ja ganz erschöpft. Wäre es zuviel verlangt, wenn ich Sie um ein Autogramm bitte?“
Sekundenlang starrte Verena die zierliche, ältere Frau an, die vor ihr stand und ihr ein Notizbuch hinhielt, in dem sie schon viele prominente Namen gesammelt hatte.
„Ich habe alle Folgen der Serie gesehen, in der Sie das Biest Henriette gespielt haben“, fuhr sie fort, wobei ihre Augen strahlten. „Sie waren großartig. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass man Ihre Rolle gestrichen hat. Jetzt plätschert die Handlung doch nur noch so vor sich hin…“
Verena starrte die Frau sekundenlang ungläubig an. Dann griff sie nach dem Buch und dem Stift, und während sie ihren Namen und eine freundliche Widmung schrieb, machte sie ihren Rücken ganz gerade, schien zu wachsen und schämte sich nicht länger für die Niederlage, die sie vor ein paar Minuten hatte hinnehmen müssen.
Anderthalb Stunden später konnte man Verena in der Lübecker Innenstadt sehen, wo sie vor dem Schaufenster eines sehr exklusiven Schuhgeschäfts stand und mit abwesendem Blick die ausgestellten Schuhe betrachtete.
Eigentlich hatte sie gar nicht die Absicht gehabt, den Umweg über die Fußgängerzone einzuschlagen, zumal die Hitze auch hier jetzt noch am frühen Abend wie eine bleierne Glocke in den Gassen hing.
Wider alle Vernunft war sie hierher gekommen, ohne ihre Entscheidung erklären zu können. Auf einmal stand sie wieder vor diesem Schaufenster, hinter dem die zur Schau gestellten Schuhe in allen Farben glänzten und lockten, während kleine Schilder dezent und fast beschämt die horrenden Preise der potentiellen Kundin zuraunten.
Preise, die Verena schon längst nicht mehr zahlen konnte. Aber träumen, sagte sie sich jedes Mal, wenn sie mit ihren Gedanken an diesem Punkt ankam, träumen durfte sie doch noch hin und wieder.
Und sobald sie anfing zu träumen, dann erinnerte sie sich unweigerlich auch daran, mit welcher Selbstverständlichkeit und Großzügigkeit sie früher eingekauft
Weitere Kostenlose Bücher