Liebesmaerchen in New York
Vorbehalte liebte.
Mitch erging es allerdings nicht viel anders. Als er Hester erzählt hatte, er habe nie daran gedacht, sich eigene Kinder anzuschaffen, war das die volle Wahrheit gewesen. Hätte er früher gewusst, wie es ist, einen kleinen Jungen zu lieben, in ihm in gewisser Weise sich selbst wiederzusehen, wäre sein Leben möglicherweise anders verlaufen.
Wahrscheinlich wegen dieser Betrachtungen beschäftigte Mitch sich gedanklich auch mit Reds Vater. Was für ein Mann mag das sein, fragte er sich wieder und wieder, der ein so besonderes Kind in die Welt setzte und es dann verließ? Sein eigener Vater war streng gewesen und alles andere als verständnisvoll, aber er war immer da gewesen. Und Mitch hatte seine Liebe nie in Zweifel gezogen.
Ein Mann wurde nicht fünfunddreißig, ohne ein paar Zeitgenossen zu kennen, die geschieden waren. Aber er kannte darunter einige, die es fertiggebracht hatten, sich mit ihren Exehefrauen so zu einigen, dass sie weiterhin Väter bleiben konnten. Es fiel ihm schwer zu verstehen, wie Radleys Vater es übers Herz hatte bringen können, sich nicht nur von seiner Familie zu trennen, sondern sie ganz und gar zu verlassen. Nach einer Woche in Reds Gesellschaft war ihm das einfach unfassbar.
Und dann Hester. Welcher Mann brachte es fertig, eine Frau alleine für den Lebensunterhalt und die Erziehung des Kindes sorgen zu lassen, das sie gemeinsam in die Welt gesetzt hatten? Mit der Frage, wie sehr sie diesen Mann wohl geliebt haben mochte, beschäftigte Mitch sich mehr, als für sein Seelenheil gut war. Als Folge ihrer schlechten Erfahrungen war Hester Männern gegenüber vorsichtig, ja sogar ablehnend.
Mir gegenüber ist sie es jedenfalls, dachte Mitch. Sie ist so vorsichtig, dass sie mir die ganze Woche aus dem Weg gegangen ist und mich hartnäckig immer noch mit »Sie« anredet.
Jeden Tag zwischen vier Uhr fünfzehn und vier Uhr fünfundzwanzig erhielt er einen Anruf von Hester, die ihn fragte, ob alles gut gegangen sei, ihm dafür dankte, dass er auf Red aufgepasst hatte, und ihn bat, den Jungen zu ihr nach oben zu schicken. An diesem Nachmittag hatte Radley ihm einen Scheck über fünfundzwanzig Dollar ausgehändigt. Diesen Scheck hatte er immer noch zusammengeknüllt in seiner Hosentasche.
Glaubt sie wirklich, ich würde mich abschieben lassen, weil sie mich einmal hat abblitzen lassen? fragte er sich. Er hatte den Augenblick nicht vergessen, in dem sie sich rückhaltlos an ihn geschmiegt hatte. Und er wollte nicht nur dasselbe wieder erleben, sondern darüber hinaus alles das, was er sich in seiner Fantasie sonst noch vorgestellt hatte.
Wenn sie denkt, ich träte vornehm beiseite, dann steht Mrs Hester Wallace noch eine gewaltige Überraschung bevor, dachte er.
»Ich krieg die Retroraketen nicht richtig hin«, beklagte Red sich. »Sie sehen so komisch aus.«
Mitch legte seine eigene Arbeit, an der er ohnehin nichts getan hatte, seit er über Hester nachgedacht hatte, zur Seite und nahm das kleine Skizzenbuch in die Hand, das er Red geliehen hatte. »Da wollen wir einmal sehen. He, ist doch gar nicht so übel.« Er lachte erfreut über Radleys Versuch, die »Defiance« zu zeichnen. Offensichtlich hatten die paar Tipps, die er dem Jungen gegeben hatte, dessen Technik schon verbessert. »Du bist ein echtes Naturtalent, Red.«
Radley errötete vor Freude, runzelte dann jedoch wieder die Stirn. »Aber sieh doch mal, die Raketen sind total verkehrt.«
»Nur weil du zu früh an die Details herangehst. Zuerst musst du mit leichten Strichen deine Gesamtvorstellung skizzieren.« Mitch führte die Hand des Jungen. »Und du darfst keine Angst haben, Fehler zu machen. Dafür gibt es Radiergummis.«
»Aber du machst nie Fehler.«
»Doch, sicher mache ich die. Das hier ist der fünfzehnte Radiergummi in diesem Jahr.«
»Du bist der beste Zeichner der Welt«, erklärte Red voller Überzeugung und sah Mitch bewundernd an.
Gerührt zerzauste Mitch ihm das Haar. »Sagen wir, einer der zwanzig besten«, korrigierte er ihn mit ungewohnter Bescheidenheit.
Als das Telefon klingelte, wäre er am liebsten nicht an den Apparat gegangen. Der Gedanke an ein Wochenende ohne Red gefiel ihm überhaupt nicht. Und für einen Mann, der in seinem Leben nie Verantwortung für jemand anderen gehabt hatte, war es eine ernüchternde Erkenntnis, dass er den Jungen vermissen würde. »Das wird deine Mutter sein.«
»Sie hat gesagt, wir gehen heute Abend ins Kino, weil Freitag ist und so. Du kannst
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