Liebesnächte in der Taiga
morgen muß Karpuschin sie bekommen haben. Ich erwarte ihn jede Stunde.«
»Also zu spät?«
»Ja. Zu spät!« Kraswenkow humpelte zur Tür. »Das einzige, was ich tun kann, ist der Versuch, Katharina Kirstaskaja zu retten …«
Dr. Langgässer drehte sich um und drückte die heiße Stirn gegen die Fensterscheibe.
Zum erstenmal spürte er, daß er kaum noch die Kraft besaß, sein Schicksal zu ertragen.
Als das Motorboot an der Landestelle der Landzunge in der Muna festmachte und die Kirstaskaja an Land rannte, wußte Semjonow, daß es soweit war.
Ludmilla hatte bereits alles gepackt, was mitzunehmen sich lohnte. Drei Säcke hatte sie mit Wäsche gefüllt, zwei große lederne Beutel enthielten die nötigsten Haushaltsgeräte. In einer Felltasche waren die Sachen für Nadja, und für Nadja selbst gab es eine Tragtasche aus Leder, an den Seiten mit Fellstreifen verziert.
»Katharina kommt«, sagte Semjonow und ging hinaus. Ludmilla folgte ihm, und so standen sie vor ihrem Haus, Hand in Hand, wie einst Adam und Eva, als sie den Engel mit dem flammenden Schwert kommen sahen und wußten, daß sie das Paradies verloren hatten.
»Ihr müßt weg!« schrie die Kirstaskaja schon von weitem im Laufen. »Karpuschin kommt! Major Kraswenkow hat angerufen! Einer eurer deutschen Gefangenen hat euch verraten!«
Semjonow senkte den Kopf. Er hatte es erwartet. Unter den Jägern der Taiga war er ein freier Mann gewesen. Bei Schliemann und den ehemaligen deutschen Plennys war er zu Hause, Bürger von Nowo Bulinskij. Und dann kamen die Lebenslänglichen und Karpuschins satanisches Versprechen der sofortigen Heimkehr. Keinem hatte er es gesagt, auch nicht Ludmilla … aber als er wußte, daß sein Steckbrief verteilt worden war, konnte er die Tage zählen, bis das eintraf, was nun geschehen war.
»Alles ist schon gepackt«, sagte Ludmilla, als die Kirstaskaja ihr um den Hals fiel und weinte. Das war ebenso ungeheuerlich, die Kirstaskaja weinen zu sehen, wie wenn eine Wüste über Nacht blüht oder auf einem nackten Felsen Kornfelder sprießen. Vom Boot kamen Schliemann, Wancke und andere Männer aus Nowo Bulinskij gelaufen und umringten Semjonow.
»Ich bringe diesen Kerl um!« schrie Schliemann. »Wir wissen auch schon, wie! Statt der täglichen Spenden für das Lager legen wir jetzt Zettel unter die Bäume: Es gibt erst wieder Fressen, wenn ihr meldet, daß der Verräter nicht mehr lebt! – Du sollst sehen, wie das wirkt! Wie einen tollen Hund werden sie den Lumpen erschlagen!«
»Was ändert das?« Semjonow zeigte zum Haus. »Drinnen steht alles bereit. Wir können sofort fahren. Nur weiß ich nicht mehr, wohin …«
Sie gingen alle ins Haus, und dort legte ihnen die Kirstaskaja ihren Plan vor. Er war lächerlich einfach.
»Wir bringen euch nach Shigansk«, sagte sie und zeigte auf einer Karte den Weg. »Von Shigansk fahrt ihr mit der Kleinbahn nach Jakutsk. Dort geht ein Zug nach Irkutsk. Von Irkutsk fahrt ihr mit dem Zug nach Nowosibirsk, steigt dort um in die Südroute und fahrt nach Alma-Ata. In Alma-Ata gibt es Züge nach Taschkent und Samarkand bis zur iranischen Grenze.« Die Kirstaskaja richtete sich von der Karte auf. Ihr schönes, wildes Gesicht war um Jahre älter geworden. Tiefe Falten hatte sie in den Mundwinkeln. »Über die Grenze müßt ihr zu Fuß, durch das Gebirge … Ihr werdet, wenn alle Züge fahren, drei oder vier Wochen unterwegs sein.«
Semjonow betrachtete die Karte und den eingezeichneten Weg. Wieder quer durch das asiatische Rußland, dachte er. Mit einer Frau und einem kleinen Kind, das gerade zu laufen beginnt. Wieder eine Flucht ins Ungewisse … aber diesmal aus Rußland hinaus.
Hinaus aus Sibirien. Weg aus der Taiga. Nie mehr den großen Strom vor Augen. Nie mehr das Rauschen der Wälder. Nie mehr der unendliche, weite, offene, Gott so nahe Himmel.
Er sah Ludmilla an und erkannte, daß sie den gleichen Gedanken hatte. Aber sie nickte ihm zu und lächelte.
Komm, Pawluscha, hieß dieses zaghafte Lächeln. Komm. Überall, wo wir zusammen leben, wird die Taiga sein, die breite Lena, der Schneesturm und der heiße Steppenwind, und unser blauer, goldglitzernder Himmel mit den Wolken, die wie weiße Schiffe mit geblähten Segeln über die Wälder schweben.
Sibirien – das ist nicht ein grüner Fleck auf der Karte. Sibirien, das ist in uns. Unser Herz. Unser Blut. Unser Hirn. Wir werden es nie verlieren … ganz gleich, wo wir einmal leben und sterben werden …
»Fahren wir!« sagte Semjonow
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