Liebling der Götter
Flügel bewußt übertrieb. Die Streitwagen steuerten direkt auf sie zu und näherten sich ihr jetzt sehr schnell, denn die Wagenlenker trieben die geflügelten Pferde mit Peitschen zur Höchstleistung an. Mittlerweile waren die Streitwagen sogar so schnell, daß sie das Opfer leicht in weniger als zwanzig Sekunden eingeholt hätten, wenn sie nicht zuvor an einer Eisenbahnbrücke zerschellt wären.
Adler Mary spreizte die schmerzenden Flügel und ging erst einmal in den Gleitflug über, bevor sie sich umblickte und zu ihrem Entsetzen feststellen mußte, daß ein Wagen unter der Eisenbahnbrücke hervorkam. Mit einem verzweifelten Kreischen flatterte sie mit den Schwingen und stieg in die Luft; und der Streitwagen, bemannt mit fünfzehn Geisterkriegern – allerdings allesamt ohne Helm –, folgte ihr.
Es dauerte nicht lange, bis sie begriff, daß dieser Haufen im Gegensatz zu den anderen Geisterkriegern weit intelligenter als der durchschnittliche Exbackenzahn war. So weigerten sich diese Geisterkrieger standhaft, in Baumkronen bruchzulanden, wenn Mary voranflog, um sie in die Falle zu locken, und als sie sich schließlich in Bodenhöhe auf einen Zweig niederhockte, schwebten sie eine Weile über dem Baum und setzten mit Blitzen den gesamten Wald in Brand. Notgedrungen mußte sie ihn nun verlassen. Dies gelang ihr, indem sie sich zwischen zwei langsam fliegenden großen Krähen versteckte. Als sie bereits fast den ganzen Weg klammheimlich zurückgelegt hatte, den sie erst kurz zuvor gekommen war, wurde sie von den Kriegern erspäht, die umgehend die Verfolgung wieder aufnahmen. Wie man sieht, nichts Außergewöhnliches, nichts sonderlich Gescheites, lediglich das Paradebeispiel einer Hetzjagd.
Marys Flügel schmerzten mittlerweile höllisch, und von den vielen Loopings und Steil- und Sturzflügen schwirrte ihr der Kopf.
Unterdessen kam der Streitwagen immer näher, bis die Entfernung allmählich auf ein beängstigendes Maß geschrumpft war. Die Geisterkrieger bewiesen sogar eine gewisse Umsicht, denn kaum versuchte es Mary erneut mit einem Looping, folgten sie ihr nicht, sondern stellten statt dessen die Hetzjagd einfach so lange ein, bis der Vogel wieder auf gleicher Höhe mit ihnen war und geradeaus flog. Als es Mary gelang, sich auf einer der beiden Landekufen eines vorbeifliegenden Hubschraubers eine Mitfahrgelegenheit zu verschaffen, gingen ihre Widersacher einfach längsseits und schleuderten so lange Blitze, bis der Pilot abgesprungen war und der Hubschrauber trudelnd außer Kontrolle geriet. Mary blieben nicht mehr viele Möglichkeiten, es sei denn, sie versuchte es mal mit einem Lächeln, aber das würde wahrscheinlich auch nichts mehr nützen.
»Nein«, sagte die Gorgo, »nicht R, sondern G.«
Jason blickte sie skeptisch an. »Wie heißt du?«
»Mein Name ist Goggo, nicht Gorgo«, rief das Ungeheuer mit dem Schlangenhaar durch den Briefschlitz hindurch. »Du mußt dich in der Adresse geirrt haben. Diese Gorgo wohnt … na ja, die wohnt ziemlich weit weg von hier. Soweit ich weiß, ganz dahinten auf der anderen Seite der Berge.«
»Das glaube ich dir nicht«, zischte Jason.
»Nein?« Die Klappe des Briefschlitzes zitterte leicht. »Warum denn nicht?«
Jason schaute auf die vielen Steinstatuen, die die Zufahrt zum Haus teils stehend, teils liegend umsäumten und einen höchst naturgetreuen Eindruck machten. Statuen von Postboten. Statuen von Milchmännern. Statuen von Zeugen Jehovas.
»Einfach nur so«, antwortete er schließlich. »Kommst du jetzt raus, oder muß ich die Tür eintreten?«
Die Klappe fiel herunter, und kurz darauf hörte Jason ein Geräusch, als lehnte jemand eine schwere Steinstatue von innen gegen die Tür. Wahrscheinlich ein Vertreter für Doppelverglasungen, vermutete Jason. Dann ging er ums Haus herum und trat die Hintertür ein.
Die Inneneinrichtung des Hauses war, gelinde gesagt, merkwürdig. Alle Möbel bestanden aus Stein, und nirgendwo gab es Spiegel oder reflektierende Flächen; jedoch hatte Jason einen Vetter, der in einer dieser neuen Siedlungen in den Londoner Docklands wohnte, so daß ihn selbst das nicht sonderlich überraschte. Er durchquerte den Flur und ging in die Küche – auf der Arbeitsplatte stand eine Tasse mit buchstäblich steinaltem kalten Kaffee, und Jason fragte sich, wie sich dieses Wesen überhaupt ernähren konnte oder ob es von nichts anderem als Kieselsteinen lebte. Als er schließlich ins Wohnzimmer gehen wollte, war die Tür von innen
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