Lieblingsmomente: Roman
Essen, Restaurants und Kneipen, in die wir gerne gehen, um dort unsere Zeit zu verbringen. Mir fällt auf, dass er sich in Stuttgarts Nachtleben erschreckend gut auskennt. Wie kann es sein, dass ich ihn dann noch nie getroffen habe, wo wir doch durchaus das ein oder andere gemeinsame Stammlokal haben? Warum sind wir uns nicht schon früher begegnet?
Er lächelt mich an und nimmt einen weiteren Schluck Bier.
»Was?«
Ich schüttele nur den Kopf, weil ich die Frage nicht laut stellen möchte. Es würde etwas zu verzweifelt klingen.
»Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«
»Und worüber?«
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und klemmt sich die Bierflasche unter den Oberarm, was irgendwie so wirkt, als würde er die Flasche umarmen, und er sieht dabei so aus, wie ich mich fühle: zufrieden. Zu gerne würde ich jetzt frech nach meiner Kamera greifen und ihn fotografieren. Schon lange habe ich diesen Drang in mir nicht mehr gespürt, und jetzt ist er auf einmal wieder sehr präsent. Tristan weckt in mir das Bedürfnis, diesen wunderschönen Moment für immer einzufangen. Aber ich lasse es und entscheide mich stattdessen lieber für eine andere, harmlose Frage.
»Woher weißt du eigentlich so viel über die Gastrobranche?«
Er nickt lächelnd, als hätte er die Frage vorausgesehen.
»Ich gehe einfach gerne aus.«
»Das tue ich auch. Ich mache das sogar beruflich, trotzdem weiß ich nicht so viel.«
»Okay, ich habe einen Gastroführer geschrieben. Über Stuttgart. Schon eine kleine Weile her.«
Das überrascht mich. Wobei ich nicht sagen kann, wieso.
»Wirklich? Das ist toll. Vielleicht habe ich ihn ja schon gelesen.«
Tatsächlich haben Oliver und ich daheim im Schrank, neben den Kochbüchern von Tim Mälzer und Jamie Oliver, ein paar Gastroführer über die besten Locations in Stuttgart stehen, aber ich kann mich nicht mehr an die Titel oder Cover erinnern. Der neueste war ein Geschenk zur Einweihung der Wohnung. Ich weiß nicht einmal mehr von wem. Die meisten Gastroführer finde ich ohnehin öde. Sie beschreiben nur Läden, die von Touristen aufgesucht werden. Tristan ist Stuttgarter, er liebt und lebt diese Stadt, das könnte eine angenehme Abwechslung werden.
»Das denke ich kaum. Ich habe mit einem Kumpel rumgesponnen. Er hatte die Idee Stuttgart für Stuttgarter . Jetzt macht er die Website kesselfieber.de , kennst du bestimmt.«
»Klar kenne ich kesselfieber.de. Manchmal schicke ich denen Bilder für ihre Artikel. Eine Freundin schreibt für die Jungs.«
Wir nicken und grinsen. In Stuttgart kann man sich leicht an dieser Kesselfieber-Krankheit anstecken. Wir alle leben hier, wir alle kennen irgendwie alles über andere, haben Leute unendlich oft in Clubs wie dem Rocker 33 oder der Röhre gesehen, bevor sie umziehen mussten und dichtgemacht wurden, und wir alle haben am Palast der Republik ein trauriges Abschiedsbier auf unvergessliche Abende und alte Freunde getrunken.
»Hast du noch mehr geschrieben?«
»Hm, wie jeder ordentliche Literaturstudent habe ich früher Gedichte und Kurzgeschichten geschrieben. Für … die Schublade.«
»Kann ich sie lesen?«
Statt einer Antwort zuckt er nur mit den Schultern und deutet mit dem Finger auf ein Bild hinter mir an der Wand. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, auf welches er zeigt.
»Hast du noch mehr solcher Fotos?«
»Was meinst du?«
»Bilder, die Gefühle zeigen …«
Mit einer ruckartigen Bewegung erhebt er sich aus dem Stuhl, stellt das Bier an der Tischkante ab und geht zu dem Bild hinter mir. Ich drehe mich immer noch nicht um. Das Bild soll als Motivation dienen, nicht als Spießrutenlauf.
»… und Geschichten erzählen.«
»Nein.«
Das stimmt zwar nicht, aber ich kann mich gerade nicht richtig konzentrieren. Ich spüre ihn hinter mir, spüre seine Präsenz. Aber ich weigere mich, ihn anzusehen, weil ich dann vermutlich die Wahrheit sagen würde – was ich nicht will. Nicht schon wieder. Das heute im Park war ein Versehen. Ich lebe in meiner gemütlichen Seifenblase aus kleinen, aber funktionierenden Halbwahrheiten und vertriebenen Träumen. Wieso sollte ich diese Blase verlassen?
»Ich habe ein Buch geschrieben und das Manuskript über einen Freund einem Verlag geschickt. Als die Leute vom Lektorat dann begeistert sagten, sie würden es gerne veröffentlichen, habe ich gekniffen und es zurück in die Schublade meines Schreibtisches verbannt.«
Seine Stimme klingt näher, als ich angenommen habe. Er muss wirklich direkt
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