Lieblingsmomente: Roman
draußen. Die Sonne scheint, und ich höre leises Vogelgezwitscher. Es könnte ein wunderschöner Morgen sein, wäre da nicht dieses schlechte Gewissen. Mein Blick wandert zu Tristan, der sich gerade in den Fahrersitz gleiten lässt, und sofort spüre ich wieder das Schlagen der kleinen Flügel in meinem Kopf – und in meinem Bauch. Sosehr mich diese Situation im Moment überfordert, so fühlt sie sich, sobald ich Tristan sehe, auf wirklich merkwürdige Weise auch gut an. Wir haben eine Nacht zusammen verbracht, wie ich sie ganz sicher so noch nie erlebt habe und deswegen auch nicht vergessen werde. Tristan kam mir näher, als ich erwartet hatte, und vielleicht habe ich ja auch ein paar Erinnerungen in seinem Kopf hinterlassen – wenn ich Glück habe sogar noch wo anders. Ich möchte fast lächeln, verbiete es mir aber und verdränge den Wunsch schnell wieder, denn was soll ich in seinem Herz?
Ich atme tief durch und befehle die kleinen Käfer in meinem Kopf zurück auf den Boden der Tatsachen. Wir sind Freunde, es war nur vernünftig, dass wir hier übernachtet haben, und jetzt sollte ich mich beeilen, zurück zu Oliver in die Wohnung zu kommen.
Also klettere ich stumm neben Tristan auf den Beifahrersitz und schaue zu, wie er den Bus wieder aus den Weinbergen fährt. Irgendwo da oben liegt eine aufgeplatzte Milchpackung wie ein Denkmal zwischen den Rebstöcken. Und eine erloschene Sternschnuppe. Und dann lächle ich doch.
Tristan braucht keine Anweisungen. Er weiß, wo ich wohne, und kennt den Weg. Wir reden nicht. Ich wüsste auch gar nicht, wo ich anfangen soll. Entweder es gibt nichts zu sagen, oder aber es gibt zu viel zu sagen. Ich tippe auf Letzteres, fühle mich aber gerade einfach nicht in der Lage, mit dem ersten Wort anzufangen – vielleicht auch, weil sich mein Magen bei jeder Kurve von dem Cuba Libre befreien will.
Je näher wir meiner Wohngegend kommen, desto unwohler fühle ich mich. Es ist, als müsste ich die Schwelle in ein anderes Leben betreten, als wäre ich eine ganz andere Person als da oben in den Weinbergen. Und die Person hier unten hat ein schlechtes Gewissen, das sich wieder lauter zu Wort meldet. Was soll ich Oliver sagen? Die Wahrheit? Eine abgeschwächte Version? Andererseits ist ja nichts passiert. Mein Magen tut weh, mein Kopf hämmert, mir ist schlecht, und ich habe das Gefühl, meine Haut brennt so langsam vor sich hin. Was habe ich nur getan?
Da ist sie, meine Straße. Da ist mein Haus. Meine Wohnung. Dort oben sitzt Oliver. Mit seinen Eltern. Ich spüre, wie langsam Panik in mir aufsteigt.
Ich warte gar nicht erst, bis Tristan den Motor ausgeschaltet hat, reiße die Tür auf, als würde ich ersticken. Schnell schnappe ich Kamera, Handtasche und Milchpackung und stürze aus dem Wagen. Ich muss zu Oliver.
»Danke für alles.«
Für mehr ist keine Zeit. Er will noch etwas sagen, aber ich kann es jetzt nicht hören. Ich will es nicht hören. Ich weiß, ich benehme mich wie eine blöde Kuh, weil ich ihn hier einfach stehen lasse, aber ich kann jetzt nicht mit ihm reden. Ich kann ihn nicht hören, weil jedes Wort aus seinem Mund zu viel wäre.
»Layla!«
Und tatsächlich trifft mich mein Name aus seinem Mund wie ein Geschoss in den Rücken. Irgendwo knapp hinter dem linken Schulterblatt. Aber ich drehe mich nicht mehr um, renne die Treppe nach oben und hoffe, es ist noch nicht zu spät.
Meine Hand zittert, als ich die Tür aufschließe. Es ist doch noch nicht zu spät, oder?
»Oli? Ich bin es! Sind deine Eltern schon …«
Ich reiße die Tür auf und sehe das ganze Ausmaß. Da sitzen sie: Oliver und seine Eltern, die ich sehr liebe, weil sie in den letzten Jahren zu meiner Familie geworden sind. Sie sehen mich überrascht an. Der Tisch ist gedeckt mit Brötchen und Kaffee, das schöne Geschirr wird benutzt.
Die drei sehen mich überrascht an.
»Layla …«
Olivers Mama mustert mich von oben bis unten. Ich kann mir zu gut vorstellen, wie ich aussehe und welchen Eindruck ich wohl hinterlassen werde. Meine Haare sehen wahrscheinlich aus wie ein Heuhaufen, in dem man verzweifelt eine Stecknadel gesucht hat, und das T-Shirt ist mir nicht nur zu groß, es ist auch nicht meines. Es gehört einem anderen Mann.
»Die Verspätung tut mir wirklich leid.«
»Kein Problem.«
Oliver mustert mich ebenfalls. Er wird eins und eins zusammenzählen. Er wird es wissen. Ich war die Nacht nicht da, komme zu spät, obwohl wir einen Termin hatten, und trage das T-Shirt eines anderen
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