Lieblingsmomente: Roman
Mannes. Ich könnte es nicht einmal abstreiten. Ich habe die Nacht ja mit einem anderen Mann verbracht, auch wenn es »nicht so ist, wie es aussieht«. Immer habe ich diesen Satz verurteilt, hielt ihn für eine Lüge und für Schwachsinn – eine Erfindung der Männerwelt. Aber jetzt wäre er sogar wahr. Irgendwie will ich mich bei Oliver entschuldigen, ihm alles erklären.
»Oh, gut, du hast an die Milch gedacht.«
Die Milch. Ich nicke, stelle sie wortlos auf den Tisch, umarme seine Eltern und entschuldige mich dann ins Bad, wo ich mich schnell frisch machen will. Oliver nickt und schenkt Milch in seinen Kaffee.
»Kein Problem. Wir fangen einfach schon mal an.«
»Danke.«
Ich schließe die Badezimmertür ab und betrachte mein Spiegelbild über dem Waschbecken. Ich sehe anders aus. Aber es liegt nicht daran, dass meine Haare ein einziges Desaster sind und meine leicht glasigen Augen verraten, dass ich mich gestern nicht abgeschminkt und einen ordentlichen Kater habe. Es liegt auch nicht daran, dass ich Tristans T-Shirt trage. Das wirklich Schlimme an der ganzen Situation ist etwas ganz anderes: Ich sehe keineswegs unglücklich aus. Müde, ja. Unglücklich, nein. Und ich hasse mich dafür. Ich sollte mich schlechter fühlen. Ich sollte leiden, mich übergeben und dann auf Knien zu Oliver zurückkriechen, um mich zu entschuldigen. Aber ich tue es nicht.
Es ist auch gar nicht nötig. Zumindest schien Oliver gerade eben nicht sauer auf mich zu sein. Eigentlich schien er vor allem erfreut darüber, dass ich an die Milch gedacht habe.
Wenn ich ehrlich bin, spüre ich jetzt sogar eine leichte Wut in mir aufkeimen. Und ich weiß, dass es wegen Olivers Reaktion auf meinen Auftritt ist. Kein Problem? Ist es wirklich kein Problem? Oder nur seine Art, mir zu sagen, dass ich ihm auf eine ungezwungene Art und Weise egal bin? Weil er mich für so selbstverständlich in seinem Leben hält, dass er selbst nach dieser Nacht, diesem Auftritt und allem anderen, nicht einmal auf den Gedanken kommt, ich könnte mit einem anderen Mann zusammen gewesen sein. Ich war die ganze Nacht weg, und er wusste nicht, wo ich war – oder mit wem. Und warum hat er nicht ein Mal versucht, mich auf dem Handy zu erreichen? Nicht ein einziges Mal. Vertraut er mir einfach blind? Ist seine Liebe zu mir so groß, dass er dieses große Vertrauen in mich setzt? Oder merkt er einfach nicht, dass ich … was ich … Ja, was tue ich hier eigentlich? Verdammt noch mal. Ich bin wütend auf jeden. Auf mich, weil ich mich fühle, als hätte ich Oliver betrogen. Auf Oliver, weil es ihm egal zu sein scheint. Und auch auf Tristan, weil er … mir Momente schenkt, die sich auf ewig in meinen Erinnerungen verankert haben. Ich muss plötzlich daran denken, wie er mir die funkelnde Wunderkerze entgegenhält, und ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Und dann muss ich daran denken, wie wir nebeneinander im Bus gelegen haben und draußen ein Sommergewitter über uns hinweggezogen ist. Ich will mehr von diesen Momenten. Diese Augenblicke, in denen die Welt kurz innehält – und man hofft, alles würde für immer so bleiben.
Bisher hat das nur meine Großmutter, die ich über alles liebe, geschafft, am Gardasee, als ich sie das letzte Mal besucht und das Foto von ihr geschossen habe. Damals war ich mir sicher: Kein Moment in meinem Leben wird jemals schöner als dieser hier. Niemals werde ich wahrer Liebe näher sein. Seitdem war dieser Moment am Ufer des Lagos mein absoluter Lieblingsmoment. Vielleicht ist das ja auch etwas Einmaliges im Leben. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Tristan mir einen neuen Lieblingsmoment geschenkt hat. Einfach so. In seiner Nähe fühle ich mich wohl. Ich traue mich, Dinge zu sagen, zu tun und zu fühlen, die ich sonst nie zugebe, die ich aber trotzdem fühle. Und auch jetzt wirkt er in mir nach. Aber das sollte er nicht. Mann!
Langsam ziehe ich das T-Shirt aus und halte es in meinen Händen. Ich höre Oliver in der Küche mit seinen Eltern sprechen. Oliver. Wieso hat er so reagiert? Ist es ihm egal, oder wartet er vielleicht nur, bis seine Eltern aus dem Haus sind? Das wäre eine Möglichkeit. Bestimmt. Er wird mir eine Szene machen, sobald wir alleine sind. Er wird mich vielleicht auch anschreien. Und er schreit sonst nie. Wieso ich bei dem Gedanken plötzlich lächle, weiß ich nicht, aber ich gehe davon aus, dass ich im Moment ohnehin nicht besonders zurechnungsfähig bin. Deswegen denke ich nicht mehr darüber nach,
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