Lied aus der Vergangenheit
Krankenhaus. Es ist wenig Verkehr, er kommt rasch voran. Im Aufenthaltsraum schenkt er sich seine dritte Tasse Kaffee ein und setzt sich damit hin, beobachtet seine um die Tasse geschlossenen Hände, die vibrierende Oberfläche der schwarzen Flüssigkeit, die flimmernden, sich verändernden Spiegelungen. Die letzten paar Nächte waren nicht gut. Schwer zu sagen, ob der Kaffee die Sache besser oder schlechter macht. Noch ein paar Schlucke, und er stellt die Tasse ab. Er muss sich bereit machen. Er geht in den Umkleideraum für das OP-Personal. Es ist niemand da. Nur Mrs Gomas Perücke hängt an einem Haken wie ein toter Vogel. Etwas Zeit für sich ist alles, was er braucht. Es ist ein wichtiger Tag, die zweite OP am Elektivpatienten, die zweite von insgesamt vier. Wenn alles vorbei ist, und wenn alles planmäßig abläuft, wenn keine ernsten Infektionen auftreten und wenn alle ihre Prognosen korrekt waren, wird Foday in ein paar Monaten gehen können. Nicht so, wie er jetzt geht, jeder Schritt ein strampelndes Staksen bergan. Foday wird aufrecht gehen.
Bei der ersten Operation haben sie sein rechtes Schienbein gebrochen und neu gerichtet. Heute werden sie den gleichen Eingriff am linken Bein vornehmen.
Kai streift seine Straßenkleidung ab und nimmt sich einen grünen OP-Zweiteiler aus dem Regal. Er ist rastlos, nervös und überwach. Am Becken wäscht er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und betrachtet sich prüfend im Spiegel, zieht das untere Augenlid hinunter und mustert dann sein Zahnfleisch. Seine Haut ist trocken und gespannt. Ihm ist leicht übel. Er lässt das Wasser laufen und trinkt aus der Hand. Das Wasser ist warm und erfrischt nur minimal.
Er setzt sich auf die Bank und hält sich die Hände vor das Gesicht. Das Zittern ist noch immer da. Er schließt die Augen und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Spindwand, spürt, wie sich seine Atmung verlangsamt, sein Herz beruhigt. Er spreizt die Finger auf seinen Oberschenkeln; sein Körper beginnt, sich leichter zu fühlen.
Es klopft an der Tür. Er öffnet die Augen. »Ja?«
»Dr. Mansaray?«
»Ja?«
Es ist eine der OP-Schwestern mit einer Nachricht. »Sie werden in der Notaufnahme gebraucht.«
»Haben Sie nicht gesagt, dass ich gleich eine OP habe?«
»Doch. Sie sagen, es wäre sonst niemand da.«
Er seufzt, steht auf und öffnet die Tür, doch die Schwester hat sich schon abgewandt. Er sieht, wie sie mit der Schulter die Tür zum OP aufstößt, in dem Mrs Goma operiert. Schnell wechselt er die Schuhe und geht die Treppe hinauf und den Gang entlang zur Notaufnahme. Die Station ist nicht durchgehend geöffnet. Dazu fehlt ihnen das Personal. Sie macht um zehn Uhr vormittags auf, und da stehen die Leute schon längst an. Die meisten Fälle können, selbst wenn sie ernst sind, routinemäßig behandelt werden. Aber wenn mal ein echter Notfall außerhalb der Sprechzeiten eingeliefert wird, kann man von überall abberufen werden.
Ein schweres Eisentor war abgestürzt, während es von einem Kran an seine Position heruntergelassen wurde, und hatte drei Arbeiter erfasst. Zwei von den Männern waren mit Knochenbrüchen davongekommen und wurden schon versorgt. Der dritte ist derjenige, den sich Kai anschauen soll. Die Schwester zeigt auf einen Mann, der am hinteren Ende des Raums auf dem Rücken liegt. Er ist nach Kais Schätzung noch keine vierzig, aber ausgezehrt, wodurch er älter erscheint. Er liegt stumm, mit offenen Augen da.
»Hallo«, sagt Kai. »Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?«
»Schmerzen nicht so sehr, Herr Doktor. Ich spür nur meinen Körper nicht.«
Kai liest das Einweisungsblatt, das die Schwester ihm gegeben hat. Verdacht auf Spinaltrauma. Er untersucht den Mann kurz, ruft dann die Schwester und verlangt nach einer Nadel. Am oberen Brustkorb anfangend, sticht er in regelmäßigen Abständen in die Haut. »Sagen Sie mir, ob Sie das spüren.« Der Mann nickt und flüstert: »Ja. Ja. Ja.« Dann Stille. Direkt oberhalb des Nabels. Kai steigt wieder höher und wiederholt die Nadelstiche, diesmal um die exakte Stelle zu ermitteln, an der die Empfindungsfähigkeit aufhört. »Ja, ja.« Als er dieselbe Stelle erreicht, herrscht wieder Schweigen. Als Nächstes prüft er den Tiefenreflex an der Achillessehne. Nichts.
»Ich komme nachher noch mal«, sagt er zu dem Mann. »Wer ist mit Ihnen da? Angehörige?«
Er schüttelt den Kopf. »Mr Sesay.«
»Wer ist das, Ihr Boss?«
Ein Nicken.
Im Schwesternzimmer gibt Kai seine Diagnose ab.
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