Lied aus der Vergangenheit
kümmerte?«
»Ja«, bestätigt Abass. »Eine Dame hatte es gekriegt, und dann ist sie gestorben. Jetzt ist das Baby auch tot.«
»Das ist traurig«, sagt Kai. »Yeama ist bestimmt traurig. Ist ihr Bruder inzwischen zurück?«
Abass hört auf, die Arme hin- und herzuschwingen, er senkt den Kopf, macht ein feierliches Gesicht. »Ich glaube nicht, dass er zurück ist, Onkel Kai, denn ich habe ihn nicht gesehen, und ich wüsste es, wenn ich ihn gesehen hätte, weil er Soldat ist und eine Uniform trägt.«
Also hat der Mann seine ganze junge Familie verloren und weiß davon nichts. Bis die Nachricht ihn erreicht, werden sie längst unter der Erde liegen. Keine Telefone, keine Post, die abgelegenen Distrikte des Landes sind praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Jemand wird ihm die Botschaft persönlich überbringen müssen. Jeden Tag sieht Kai auf den Stationen Frauen neben ihren kranken Kindern liegen. Die Apathie der Frauen irritiert die ausländischen Ärzte, die sie ermahnen, besser aufzupassen, die Lebenszeichen ihres Kindes verantwortungsvoll zu überwachen. Die einheimischen Schwestern jedoch zeigen sich weniger verwundert. Und Kai kennt den Gesichtsausdruck der Mütter. Es ist Ergebung, Ergebung in das Unausweichliche. Die Leute glauben, der Krieg sei das Schlimmste, was das Land je erlebt hat: Sie haben keine Ahnung, wie der Frieden ist. Welchen Mut es erfordert, einfach durchzuhalten.
»Sobald wir mit deinen Hausaufgaben fertig sind, gehen wir da kurz vorbei. Unser Beileid aussprechen.«
»Unser Beileid aussprechen«, wiederholt Abass, jedes Wort sorgfältig abwägend.
»Komm«, sagt Kai. Er nimmt das Kind in die Arme, drückt es an seine Brust und legt das Kinn auf dessen Scheitel. Es tut ihm leid. Noch vor einer Minute war Abass so vergnügt. »Erst Essen. Oder Hausaufgaben?«
»Hmm.«
»Kopf oder Zahl?«
Kai holt eine Münze aus der Tasche. Sie werfen, und als Abass verliert, werfen sie um zwei aus drei. Trotzdem verliert Abass.
»Was hast du auf?«, fragt Kai.
»Es ist ein Versuch. Ich brauche Jod und eine Pipette oder wie das heißt. Mama sagt, du kannst mir das geben. Zitronen und noch ein paar andere Sachen.«
»Mal sehen, was sich machen lässt«, sagt Kai.
In der Küche stellt sich Abass auf einen Schemel vor den Herd und erhitzt in einem Topf Maismehl und Wasser. Während sie darauf warten, dass die Mixtur aufkocht, kehren Kais Gedanken zu den Ereignissen des Tages zurück.
Als Erstes war er zur Botschaft gefahren zu einem Termin bei dem für Einwanderung zuständigen Beamten, der ihm mitteilte, sein Antrag sei in Bearbeitung, und ihm eine weitere Anzahl Formulare gab. Von dort war Kai zur Telefongesellschaft gefahren, um Tejani anzurufen, dann war ihm aber aufgegangen, dass er nicht an den Zeitunterschied von fünf Stunden gedacht hatte. Tejani würde noch schlafen. Also kaufte er eine Prepaidkarte und ging zum Mittagessen ins Mary Rose – er hatte Mary seit Monaten nicht mehr gesehen. Während er aß, beobachtete er sie dabei, wie sie in ihrem Restaurant herumging und mit ihren Gästen scherzte. Mary schien die Vergangenheit losgelassen zu haben. Wenn sie gerade nicht bedienen musste, setzte sie sich zu Kai an den Tisch; sie unterhielten sich über das Krankenhaus und über ihre Pläne, ein Take-away und einen Lieferservice einzurichten. Kai erzählte nichts von seinem Termin in der Botschaft. Als er gehen wollte, hatte sie seine Hände ergriffen, ihm fest in die Augen gesehen und das Versprechen abgenötigt wiederzukommen.
Nach dem Essen hatte er ein ruhiges Plätzchen im Park gefunden und Tejani von seinem Handy aus angerufen. Tejani stieß einen Schrei aus, als er die Neuigkeit erfuhr, dann schien er erst mal keine Worte zu finden.
»Mann, Mann, Mann«, wiederholte er. Kai hörte ihn jemandem im Nebenzimmer etwas zurufen; Helena, nahm er an. Und schließlich: »Dann machst du es also wirklich. Ich freue mich wahnsinnig.«
»Gut.« Kai konnte sich Tejani vorstellen, wie er in Shorts in seinem neuen Haus stand, ein Schattenriss vor der Sommersonne, die durch die Schiebetür aus dem Garten hereindrang, und den Kopf schüttelte, wie er das immer getan hatte. Dann fiel Kai ein, dass es in Maryland noch kalt war und sie noch gar nicht in das neue Haus gezogen waren oder auch nur wussten, wie sie es finanzieren sollten.
»Du hast das H 1 -B-Visum beantragt, stimmt’s?«
»Heißt das so?«, sagte Kai.
»Ja. Für hochqualifizierte Migranten. Ärzte stehen da ganz oben in der
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