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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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in dem Moment, ob er nach ihm rufen soll, öffnet den Mund, zögert, und mit diesem Zögern geht der Augenblick vorüber. Kai biegt um die Ecke und verschwindet.
    In der Wohnung wählt Adrian seine eigene Telefonnummer in England und lauscht dem fernen Klingeln. Er will schon wieder auflegen, als Lisa, atemlos, abnimmt.
    »Hallo?«
    »Hallo, ich bin’s.«
    »Hallo? Verzeihung, wer spricht da?«
    »Ich bin’s, Adrian.«
    »Oh, hi. Tut mir leid, ich konnte dich kaum hören. Ein paar von den Mädels sind hier zum Essen.«
    »Soll ich später noch mal anrufen?«
    »Nein, ist schon okay. Sie kommen gut allein zurecht. Sie haben gerade eine neue Flasche aufgemacht. Wie läuft’s? Wann kommst du zurück?«
    Es vergeht kein Gespräch, ohne dass sie diese Frage stellt. Anstatt ihr zu antworten, erzählt er ihr von den neuen Sitzungen. Während der letzten hat er etwas erreicht: Er hat die Männer dazu gebracht, sich an ihre Erlebnisse zu erinnern und sie aufzuschreiben oder zu zeichnen – denn mehrere von ihnen sind Analphabeten. Ein kleiner, aber bedeutungsvoller Triumph. Er erinnert sich an die erste Zeit nach seiner Ankunft, was für hohe Erwartungen er gehabt hatte, wie unrealistisch sie gewesen waren. Er lag in jeder Hinsicht falsch. Wie viele Voraussetzungen mussten geschaffen werden, bevor er auch nur anfangen konnte, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen. Jetzt hat er zum ersten Mal das Gefühl, dass er Fortschritte macht.
    »Lisa?«
    Eine Pause. »In der Besteckschublade, Anne. Verzeihung. Tja, das klingt alles sehr gut. Sie können sich wirklich glücklich schätzen, dich zu haben. Ich hoffe, das ist ihnen bewusst.«
    »Danke.«
    Ein weiteres kurzes Schweigen. Er hört, wie sie einatmet. »Liebling, ich freu mich für dich, ganz ehrlich. Aber was kannst du erwarten, bei diesen Leuten zu erreichen? Wie viele Probleme kann ein einziger Mensch in einem solchen Land schon lösen?«
    Er kann ihre Gabe, den Finger zielsicher auf den wunden Punkt zu legen, nur bewundern. Er versucht es mit Schnodderigkeit und scheitert. »Irgendjemand muss es ja tun.« Seinen Worten folgt eine Lachsalve im Hintergrund, das Scharren von Stühlen, eine Stimme, die nach Lisa ruft.
    »Nun, irgendjemand muss nicht du heißen.« Und dann, mit ihrer gewohnten Contenance: »Lass uns nicht streiten. Ich hoffe nur, du hast deine Prioritäten nicht vergessen.«
    »Natürlich nicht«, erwidert Adrian.
    Nachdem sie sich verabschiedet haben, geht er in die Küche, schenkt sich, obwohl es noch früh ist, einen Tumbler Whisky ein und setzt sich damit auf das Rattansofa. Er denkt an Lisa und ihre Freundinnen in London. Dort ist es jetzt Sommer. Sie sitzen vermutlich im Wintergarten. Natürlich ohne Ehemänner. Wenn Adrian bei solchen Anlässen früher überhaupt zu Hause war, verzog er sich in sein Arbeitszimmer oder ans Ende des Gartens oder ging irgendetwas ad hoc Erfundenes erledigen. Er trinkt einen Schluck Whisky, drückt sich das kühle Glas gegen die Stirn. Ihm ist bewusst, dass etwas in seinen Emotionen fehlt, und er braucht einen Moment, um zu erkennen, was es ist. Er sehnt sich nicht nach zu Hause, nicht im Geringsten.
    Später ruft er seine Mutter an. Er stellt sie sich in ihrem neuen Zuhause vor, wie er es für sich immer noch nennt: einem dreifach verglasten Bungalow an der See, einem Muster an architektonischer Effizienz, frei von jeglichem Charme und einfach für sie allein in Ordnung zu halten. Zwei Wochen vor seiner Abreise hat Adrian ihr einen Abschiedsbesuch abgestattet. Er war früh da, und während er am Gartentor auf sie wartete, betrachtete er die Assemblagen aus Strandgut und Treibholz, die den Rasen schmückten. In der Ferne sah er sie auf ihn zukommen, eine siebzigjährige Strandläuferin in einer Cordjacke, das windzerzauste Haar eine Silberflamme um ihren Kopf. In ihrer Art und Kleidung maskuliner als früher, als hätte sie einen Schritt zur Seite getan, um die von seinem Vater hinterlassene Lücke auszufüllen. An dem Tag war sie so glücklich gewesen, wie er sie noch nie erlebt hatte.
    »Letzte Nacht hatten wir einen unglaublichen Sturm«, erzählt sie ihm jetzt am Telefon. »Meine Güte, irgendetwas hat sie richtig in Rage gebracht!« Von der See spricht seine Mutter immer wie von einem weiblichen Wesen, das zu entsprechenden Launen und Stimmungsschwankungen neigt. »Ich dachte schon, sie würde uns alle davonspülen. Was ein Lärm! Aber heute Morgen war das Licht ganz hinreißend. Ich habe wenigstens sechs tote

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