Lied aus der Vergangenheit
Schreibtisch.
»Mein professionelles Urteil müsste wohl lauten: ›Heiler, heile dich selbst.‹ Solche Dinge dürfen einfach nicht passieren.« Sie klopft ihm leicht auf die Schulter, wie einem Hund: soweit sich Adrian erinnern kann, das erste Mal überhaupt, dass sie ihn berührt, was für die Tiefe ihres Mitgefühls spricht. »Herrje, Sie haben die Grenze schon so oft überschritten, dass ich gar nicht mehr weiß, auf welcher Seite Sie momentan stehen!«
»Ich weiß«, sagt Adrian kopfschüttelnd.
Später schlendert er allein durch den Patientengarten. Ileanas Unverblümtheit hat ihm die Augen geöffnet. Nicht warum – viel wichtiger war, was jetzt passieren würde. Er ist ein verheirateter Mann mit einem Kind, einem Job, der auf ihn wartet, einem Zuhause. Der Boden unter seinen Füßen ist feucht vom letzten Regen, der Patientengarten riecht nach Erde und Moos. Regen tropft von den höher gelegenen Blättern auf die tieferen, Töne einer Melodie. Unter der schweren Wolkendecke liegt der Garten fast in Dunkelheit. Nach der monatelangen Hitze und staubigen Trockenheit genießt Adrian noch immer den Regen, saugt sich förmlich mit ihm voll. Nachts, wenn er ihn auf dem Dach hört, und tagsüber, wenn er ihn von seinem Fenster aus betrachtet, staunt er über seine Kraft. Der Regen prasselt mit einer solchen Wucht herab, dass er der Erde zu grollen scheint, wie eine zornige Frau, die sich auf ihren Geliebten wirft.
Er denkt an Mamakay, an den Gleichmut, mit dem sie ihren Zustand zu akzeptieren scheint. Vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hat sie den Eindruck erweckt, nichts von Adrian zu erwarten, und jetzt ist es so, als ereigne sich das, was mit ihr geschieht, auf einer anderen, höheren Ebene, von der aus sie, über die Belanglosigkeiten ihrer Liaison hinaus, Jahre weit in die Zukunft, zu einem anderen Horizont blicken kann. Sie hat die mit Abstand größte Entscheidung getroffen – die Entscheidung, an der sich alle anderen werden messen lassen müssen –, und sie hat sie allein getroffen. Sie beabsichtigt, ein Leben zu erschaffen. Adrian könnte ihr dafür dankbar sein, dass sie es ihm so leicht gemacht hat. Er könnte, doch er ist es nicht. Ihre unerschütterliche Ruhe zieht ihn zu ihr hin; er verspürt den Wunsch, beinah den zwanghaften Drang, diese Ruhe zu zerschmettern.
Er spürt nicht, er hört, wie der Regen wieder anfängt, auf den Boden um ihn herum aufschlägt, auf die oberste Laubschicht des Baumes prasselt. Nach einer Weile finden die Tropfen auch den Weg zu ihm. Ein paar Minuten lang bleibt er noch sitzen, lässt es zu, dass der Regen sein Baumwollhemd durchtränkt und seine Haut berührt, dann kehrt er zurück.
Im Aschenbecher glüht noch ein Zigarettenstummel als Ileanas Hinterlassenschaft. Adrian drückt ihn aus, und dabei richtet er den Blick auf die Wand hinter Ileanas Schreibtisch. Die farbigen Reißzwecken und Ileanas Ohrring sind noch immer da und markieren auf der Landkarte Agnes’ Wanderungen. Adrian überprüft regelmäßig, hier wie im Krankenhaus, die Eintragungen über die Neuzugänge, aber Agnes ist bislang nicht wieder aufgetaucht. Einmal ist Salia von sich aus zum alten Kaufhaus gegangen, hat den ehemaligen Pförtner gefunden und ihm das Versprechen abgenommen, ihn zu benachrichtigen, sollte ihm etwas zu Ohren kommen oder sollte Agnes zurückkommen. Seitdem nichts.
Adrian nimmt Agnes’ Patientenakte, schlägt sie auf und blättert sie durch, um sein Gedächtnis aufzufrischen. In den kurzen Wochen ihrer Bekanntschaft hat er seine Zeit gut genutzt. Der Zwischenfall mit der Goldkette war wie ein Geschenk des Himmels: der empirische Nachweis ihrer dissoziativen Störung. Was soll er mit all diesen – jetzt nutzlos gewordenen – Daten anfangen? Denn das entscheidende Element fehlt, das, was alles in einen Zusammenhang bringen würde: der Auslöser ihrer Wanderungen. Das, was Agnes dazu bringt zu tun, was sie tut.
Babagaleh steht vor Elias Coles Zimmer; er teilt Adrian mit, dass Cole schläft. Normalerweise würde Babagaleh hineingehen und seinen Herrn sanft wecken, aber heute erklärt er, dass Cole eine schlechte Nacht hatte. Babagaleh hat jetzt das Regiment übernommen, ein sicheres Zeichen dafür, dass Elias Cole im Sterben liegt.
Als er sich vom Zimmer des alten Mannes entfernt, sieht Adrian Kai, der in dieselbe Richtung geht, erkennt ihn selbst im dürftig beleuchteten Korridor an seiner gewohnten Aufmachung: Flipflops, grüne OP-Kluft und T-Shirt, fragt sich
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