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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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anschaut.
    Zum Nachtisch und Kaffee setzen sie sich in die Bar, Seite an Seite auf einer Polsterbank.
    »Das machte ihn so wütend«, sagt seine Mutter, während sie Kristalle von braunem Zucker in ihren Kaffee rührt.
    »Was machte wen wütend?«
    »Deinen Vater. Seine Krankheit machte ihn wütend. Frustriert. Manchmal hat er es an dir ausgelassen.«
    »An dir hat er es auch ausgelassen.«
    »Ach.« Seine Mutter hebt ihre Kaffeetasse mit beiden Händen auf. »Das hat mir nichts ausgemacht. Ich hab das verstanden. Er hatte so viele Gründe, wütend zu sein. Die Krankheit, dass sie ihn zum Krüppel machte und ihm Lebensjahre stahl. Aber ich habe immer das Gefühl gehabt, dass er meinetwegen wütend war, nicht auf mich.«
    »Was meinst du damit?«
    »Wütend war er auf sich selbst, meinetwegen. In der Anfangszeit zog er sich in diese langen, dunklen Tage zurück und verschwand. Er meinte, ich hätte ihn niemals heiraten dürfen. Vor unserer Hochzeit sind wir ein paarmal hierhergekommen. Natürlich sah es damals ganz anders aus. Als ich ihn kennenlernte, hatte dein Vater ein Motorrad; er kaufte einen Beiwagen dafür. Sobald ich schwanger war, habe ich da nicht mehr reingepasst, aber wir haben es bis zum Jahr nach deiner Geburt behalten, haben ein, zwei Ausflüge mit dir gemacht. Wir sind im Sand stecken geblieben. Dort drüben.« Sie zeigt mit dem Löffel in die Richtung des Strands. »Zum Totlachen! Anschließend sind wir hierher, um wieder trocken zu werden. Damals vermieteten sie noch Zimmer.«
    Adrian bleibt eine Weile stumm. In seiner Erinnerung ist sein Vater immer nur grüblerisch und verbissen. An den Beiwagen kann er sich nicht erinnern, was nicht weiter verwunderlich ist. Wohl aber erinnert er sich an ein Foto, von einem Mann auf dem Motorrad und dem leeren Beiwagen. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto mit gezähntem Rand; Abzüge waren damals kleiner. Komisch, dass er sich noch so genau daran erinnert. Es muss mit einem Fotoapparat aufgenommen worden sein, der schon damals alt war. Adrian hatte immer geglaubt, der Mann auf dem Foto sei sein Großvater gewesen. Es war also sein Vater. Hinter der Kamera hatte vermutlich seine Mutter gestanden.
    »Und wie fandest du es?«
    »Ich? Na, wahnsinnig lustig!«
    »Ich meine nicht den Beiwagen. Ich meine, als er krank wurde, warst du da wütend?«
    »Nur auf Gott und die Engel. Wir wussten es ja. Auch wenn die Ärzte zunächst eine falsche Diagnose gestellt hatten. Sie meinten, es hätte was mit der Schilddrüse zu tun. Aber dein Vater hatte einen Onkel mit dieser Krankheit, und er vermutete, dass er es besser wusste und die Ärzte sich irrten. Na, und er behielt recht. Er hat es nie vor mir verheimlicht. Ich war diejenige, die auf der Heirat bestand. Wütend war er, weil das Wunder, mit dem wir, solange wir jung und verliebt waren, so fest gerechnet hatten, dann doch nicht eintraf.« Sie lächelt und starrt in ihre Tasse, bevor sie sie wieder auf die Untertasse stellt. Sie wischt mit dem Finger den letzten Rest Sahne vom Dessertteller auf, lutscht ihn ab. »Er beneidete dich, natürlich, aber gleichzeitig war er ungeheuer stolz auf dich. Wenn er sich etwas gewünscht hätte, dann miterleben zu dürfen, wie du zu dem Menschen wurdest, der dir zu sein bestimmt war.«
    Drei Tage später steht Adrian vor dem breiten Fenster. Der letzte Rest Mond spiegelt sich im Silber der See. Die Dunkelheit weicht allmählich der Dämmerung. Ein feiner Nebel wogt zwischen den fernen Dünen hervor und wieder zurück. Er öffnet die Schiebetür und tritt barfuß hinaus, auf die neue Terrasse. Die kühle Luft ist schwer vom Duft von Harz. Er geht hinunter zum Rasen und dann weiter auf den Strand. Er hebt einen flachen Stein auf und lässt ihn über die Wasserfläche flitzen. Ein, zwei, drei Mal, dann geht der Stein unsichtbar unter.
    Sechs Stunden später lenkt er den Mietwagen auf die Autobahnauffahrt und fädelt sich in den Verkehr Richtung London ein.

51
    Kai sitzt auf einem von etlichen Plastikstühlen und liest die letzten Briefe, die er von Tejani bekommen hat.
    Mein Bruder,
    heute habe ich zum ersten Mal wieder Gelegenheit, Dir zu schreiben. Es war wahnsinnig viel los. Das ist das erste Mal seit Wochen, dass ich auch nur eine halbe Stunde für mich habe. Ich denk die ganze Zeit, ich könnte Dir mailen, und das wäre so viel schneller. Aber dann fällt mir wieder ein, dass Du ins Internetcafé müsstest und wer weiß wie lange warten. Mann, ich weiß wirklich nicht, wie Du damit

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