Lied aus der Vergangenheit
beobachten den Todeskampf des Drachens.
»Besitzt der Drachen für Sie eine besondere Bedeutung?«, fragt Adrian.
Er erinnert mich an meinen Bruder. Sie hatten mich ja nach meiner Familie gefragt. Früher haben wir genau solche Drachen gebaut, damals allerdings mit Papier bespannt.
Einmal bekam ich einen richtigen Drachen; mein Vater kaufte ihn mir von seinem niedrigen Gehalt, eine Woche nachdem ich die Mittelschule abgeschlossen hatte. Ich lief hinaus, um ihn auf dem Damm hinter unserem Haus auszuprobieren. Aber es war die falsche Jahreszeit, es wehte nicht der leiseste Wind. Ich rannte hin und her, bis ich die Geduld verlor, und schließlich warf ich ihn auf den Boden und brach in Tränen aus. Dass ich weinte, erzürnte meinen Vater. Er befahl mir, den Drachen zu holen und ihn dann, vor seinen Augen, meinem Bruder zu übergeben.
Keine zwei Tage später kam ein für die Jahreszeit ungewöhnlicher Wind auf. Wer weiß, woher? Ich schaute meinem Bruder zu, wie er mit dem Drachen spielte. Er rief, ich solle mitmachen, aber ich weigerte mich. Ich wäre eher gestorben, als dass ich zugegeben hätte, wie gern ich mit diesem Drachen spielen wollte.
Mein Bruder war stramm gebaut und kräftig, hart wie ein Gummiball, deswegen merkte man, als er krank wurde, anfangs nichts davon. Ich ließ ihn in unserem gemeinsamen Bett weiterschlafen. Anschließend erledigte er seinen Teil der Arbeiten, ohne zu klagen, lediglich seine gewohnte Ausgelassenheit war durch das Unwohlsein gedämpft. In einem reinen Männerhaushalt hätte mit Sicherheit niemand etwas bemerkt. Meine Mutter hatte genug um die Ohren, wie sie oft sagte. Sie nähte alle unsere Sachen und machte außerdem Stickarbeiten, zum Verkaufen. Aber sie hatte eine besondere Zuneigung zu ihm. Am späten Vormittag fand sie ihn zusammengerollt in einer Ecke des Zimmers, wie er über die Kälte klagte, obwohl draußen die Sonne am Himmel brannte.
Kurz darauf wurde ich aus dem Bett ausquartiert und musste mit einem älteren Vetter im Wohnzimmer schlafen. Ich liebte meinen Bruder, aber trotzdem gab es Zeiten, da ich zu dem alleinigen Zweck in sein Zimmer ging, ihn zu ärgern. Wenn er Wasser wollte, ging ich hinein und hielt ihm den Becher vor die Nase, weigerte mich aber, diesen zu übergeben. An einem Punkt seiner Krankheit versagte seine Stimme, und so brachte er nicht mehr zustande, als kleine Wörter zu wimmern und Stotterlaute hervorzubringen. Dann äffte ich ihn nach, und wenn ich davon genug hatte, stellte ich den Blechbecher gerade außerhalb seiner Reichweite hin und verließ das Zimmer. Ein anderes Mal zog ich die Bettlaken herunter und zwickte ihn überall mit spitzen Fingern, da ich wusste, dass er nicht die Kraft hatte, sich zu wehren. Nichts davon zeigte die geringste Wirkung. Wann immer ich zu ihm ins Zimmer kam, sah er mich ohne eine Spur von Angst oder Hass an, eher mit einer Art gespannter Erwartung. Als wäre er neugierig, was ich als Nächstes tun würde. Und es gab Tage, da spürte ich, dass er etwas wie Mitleid für mich empfand, obwohl er derjenige war, der mit schlaffen Gliedern dalag, so nutzlos wie die einer Strohpuppe.
Mit der Zeit erholte er sich, sein Gang blieb aber unsicher. Während seiner Krankheit hatte mich meine Mutter zu seinem Handlanger gemacht, und dabei blieb es. Kümmere dich um deinen Bruder, du bist der Älteste! Die ganze Verantwortung wurde mir aufgebürdet, obwohl ich nie darum gebeten hatte. Und es gab Zeiten, da sein Wohlbefinden mein einziger Daseinszweck zu sein schien, und, ich gestehe, Gelegenheiten, da ich, mir selbst überlassen, meine Frustration an ihm ausließ.
Fragen Sie mich nicht, warum ich es tat. Kindische Eifersucht eben. Als Bettlägeriger erhielt er von meiner Mutter mehr Aufmerksamkeit. Zum Glück trug mein Bruder es mir nicht nach. Selbst dann nicht, als er längst nicht mehr von mir abhängig war, als ich zur Fortsetzung meiner Studien von zu Hause wegging und ihn zurückließ.
Und hätten Sie mich gefragt, ob ich meinen Bruder liebte, hätte ich Ja gesagt. Würde ich immer noch Ja sagen. Ich hatte mehr Nächte in der Wärme seines Körpers verbracht als in der einer jeden Geliebten, die ich später hatte. Seine Krankheit war die einzige Zeit, da ich überhaupt irgendwo anders schlief.
Wie auch immer, ich schweife vom Thema ab.
Jahreszeitenwechsel. Verstohlen zunächst. In der Nacht klopfte der Regen an die Fensterscheiben, zahllose zögerliche Finger. Die Dämmerung brachte einen frisch gewaschenen Himmel,
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