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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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konnte. Einmal, erzählte mir Julius, kroch er, als die Arbeiten für den Tag beendet waren, auf dem Bauch bis an die Kante des neuen Abschnitts und spähte über den Rand hinunter zum Wasser, benommen-beschwingt von der Fallhöhe und von der Möglichkeit, weggeweht zu werden. Am Tag vor der offiziellen Eröffnung ließen sie ihn in einem halsbrecherischen Trapezakt an der Seite hinunter, und er schrieb in den feuchten Beton die Namen aller Arbeiter, denen er am Ende seine eigenen Initialen hinzufügte: J.K.
    Ich beschränkte mich aufs Zuhören, was überhaupt meine Funktion war. Und außerdem war Julius ohnehin groß im Redenschwingen, während ich eher weniger dazu neige. Ich bin von Natur aus vorsichtig. Julius war das nicht. Er war erfüllt von einem unbändigen Eifer. Ihn umgab eine Aura der Naivität, des ständigen Staunens. Er hatte eine Art, die Welt zu sehen – als eine Stätte der Herrlichkeit –, die keine andere Wirkung hatte, als deren Realität auszublenden.
    »Snoopy hat also zu Charlie Brown zurückgefunden.«
    »Was?«
    Wie sich herausstellte, sprach er von der Mondlandung, ein Thema, das nicht aufhörte, ihn zu faszinieren. Bis zum geplanten bemannten Landeversuch waren es damals nur noch ein paar Wochen. Snoopy war eine Art Raumfahrzeug, Charlie Brown eine andere. Zwei Astronauten waren aus ihrem Raumschiff ausgestiegen und hatten dicht über der Mondoberfläche einen Weltraumspaziergang unternommen. Sie waren unversehrt ins Mutterschiff zurückgekehrt. Julius zog einen aus einem Nachrichtenmagazin ausgeschnittenen Artikel aus der Tasche. Im Vordergrund eines Schwarz-Weiß-Fotos war ein Stück milchige Landschaft zu sehen, in der Ferne der Bogen eines Horizonts, über dem ein Planet schwebte.
    »Was ist das?«, fragte Julius bedeutungsschwanger.
    Ich zuckte die Achseln. »Der Weltraum?«
    »Ja, aber was genau? Sehen Sie genau hin.«
    Ich starrte auf das Bild. Der ferne Planet kam mir diffus vertraut vor. Sie müssen bedenken, heutzutage sind solche Bilder zwar etwas ganz Alltägliches, aber damals hatte noch keiner von uns so etwas gesehen.
    Julius wurde es müde, auf meine Eingebung zu warten. »Es ist die Erde, Elias! Es ist ein Erdaufgang. So wie ein Sonnenaufgang.«
    Und einen Augenblick lang fühlte ich mich von seinem Eifer gepackt. Vom Anblick der Erde, die über einem bleichen Mondhorizont hing.
    »Es gibt keinen Ort, den wir nicht irgendwann erreichen können, und es gibt nichts, was wir nicht irgendwie schaffen können«, hatte einer der Astronauten gesagt. Julius übernahm das im Scherz als sein Mantra und wiederholte es im Laufe der folgenden Wochen immer wieder. »Es gibt nichts, was wir nicht irgendwie schaffen können«, sagte er, als sich einmal kein Flaschenöffner finden ließ, worauf er den Kronkorken seiner Bierflasche geschickt an der Tischkante abschlug.
    Ja, er war schnell bei der Hand damit, Freundschaft zu schließen, was man von mir nicht sagen konnte und woran ich auch nicht gewöhnt war. Es war eine Eigenschaft, die mich hätte misstrauisch machen können, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was Julius von mir hätte haben wollen. Oder, anders gesagt, da er, wenn er etwas wollte, nie zu zögern schien, danach zu verlangen, konnte ich mir zumindest keinen unredlichen Grund denken, warum er meine Freundschaft hätte suchen sollen. Und so gesehen, kann man wahrscheinlich sagen, dass wir Freunde geworden waren.
    Sah man von Saffia ab, waren wir Freunde geworden.
    Saffia.
    Mein sehnlichster Wunsch jener Wochen und Monate war, Zeit allein mit Saffia zu verbringen; ständig träumte ich davon und wie ich es bewerkstelligen könnte. Eines Abends fragte Julius, ob ich ihm mein Arbeitszimmer leihen könnte. Es war nicht das erste Mal. Ich sagte es schon, er hatte keine Scheu zu fragen, auch wenn er etwa das Verlangen nach einem ruhigen Platz zum Arbeiten verspürte oder einen Raum für eine Besprechung mit anderen Mitgliedern seiner Fakultät brauchte. Er ließ eine spöttelnde Bemerkung über mein Glück fallen, einen eigenen Raum bekommen zu haben, vor allem im Hinblick auf meine relativ bescheidene Position auf dem Campus. Im Gebäude seiner Fakultät wurden Umbauarbeiten durchgeführt, und die Dozenten saßen zusammengequetscht in jedem verbleibenden freien Winkel. An dem Tag fiel es mir denkbar leicht, Ja zu sagen. Ich war froh, auf diese Weise Ausgang zu bekommen. Die Arbeit an meinem Aufsatz hatte sich festgefahren, ich musste mir ein paar weitere Gedanken machen, und

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