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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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frei von Wüstenstaub, und den harten kupfrigen Geruch von Erde. Zum ersten Mal seit Monaten waren die Hügel von der Stadt aus gestochen scharf zu sehen. Wie die Wochen vergingen, wurde der Regen mutiger, verließ die Zuflucht der Nacht und kam auch bei Tag, den Blick betäubend, von dunklen Wolken begleitet. Die blauen Himmel, die mit dem Morgen kamen, waren spätestens am Nachmittag verschwunden.
    An einem solchen Tag saß ich, vom Regen eingeschlossen, an meinem Schreibtisch und versuchte, mich auf den Entwurf eines Aufsatzes für die Fakultätszeitschrift zu konzentrieren: »Gedanken zum Wandel der politischen Dynamik.« Ich suchte nach einer Arena, in der ich mir einen Namen machen und gewisse politische Ereignisse der jüngeren Vergangenheit in die richtige Perspektive rücken könnte. Das Trommeln des Regens, das Klappern der Schreibmaschinentasten brachten mich mehr und mehr aus dem Konzept, und ich strengte mich an, den logischen Faden meiner Argumentation nicht abreißen zu lassen. Das Licht war grießig und grau; ich holte mir aus einem anderen Büro eine kleine Lampe, und als ich zurückkam, blieb ich kurz am Fenster stehen und starrte hinaus. Leute hasteten über den Hof, von einem Eingang zum nächsten huschend, als wäre ein Heckenschütze auf dem Dach postiert. Ich sah Julius. Er ging den diagonalen Weg entlang, barhäuptig und ohne Schirm. Ihn begleitete jemand, den ich für einen seiner Studenten hielt; sie waren ins Gespräch vertieft. Julius gestikulierte mit beiden Händen. Das war eine Angewohnheit von ihm, er zeichnete Skizzen in der Luft und schrieb sogar mathematische Aufgaben von einiger Komplexität auf eine unsichtbare Tafel. An einem Punkt blieben sie stehen, um besser von Angesicht zu Angesicht reden zu können. Ich stand weiter am Fenster und sah zu. Sie schüttelten sich energisch die Hände, so als wären sie zu einer Einigung gelangt. Julius trennte sich an der Tür von seinem Begleiter und ging mit gemütlichem Schritt weiter. Ich sah ihn die Regentropfen vom Kopf schütteln, wie ein Hund, und beobachtete ihn, bis er im Eingang unter mir verschwand. Ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch. Und tatsächlich streckte er schon Augenblicke später sein Gesicht, glänzend nass und grinsend, durch meine Tür.
    »Pumpen Sie mir fünfundzwanzig Cent, Cole. Ich brauch was zu trinken.«
    Ich zog meinen Geldbeutel aus der Tasche und zählte ihm den Betrag ab. Julius hatte sich angewöhnt, regelmäßig in meinem Arbeitszimmer vorbeizuschauen. Manchmal, um sich kleine Geldsummen zu borgen. Anfangs führte ich darüber Buch, wie viel er mir schuldete, bis mir irgendwann klar wurde, dass er gar nicht beabsichtigte, mir das Geld zurückzuzahlen, ja nicht einmal beabsichtigte, die Energie aufzubringen, sich an seine Schulden zu erinnern. Einmal fand ich auf meinem Schreibtisch drei brandneue Päckchen Zigaretten vor. Von Julius, wie ich jedenfalls annahm. Zur Abgeltung all der Fünfundzwanzig-Cent-Darlehen.
    Er hatte ein Faible für Geschichte und lieh sich häufig Bücher von mir aus. Ein, zwei davon gab er mit Unterstreichungen und handschriftlichen Randbemerkungen zurück. Nicht zu meiner Belehrung oder zur Belehrung etwaiger künftiger Leser, sondern als Dokumentation seiner Gedanken.
    An anderen Tagen setzte er sich auf den Besucherstuhl oder stützte sich mit dem Gesäß gegen die Fensterbank und verbreitete sich über das, was ihn gerade beschäftigte – etwas, das er in der Zeitung gelesen hatte, ein Gedanke oder eine Theorie –, um zu hören, was ich dazu meinte. An Tagen, an denen er den Wagen hatte, lud er mich oft zu einer Spazierfahrt ein und dozierte vom Lenkrad aus weiter. Vor meinen Augen riss er die Stadt ab und baute sie neu auf. Abwasserkanäle. Gebäude. Brücken. Schnellstraßen. Fuhr und fuhr und sang und summte schief.
    Die Halbinselbrücke. Er erzählte mir, dass er als Fünfzehnjähriger monatelang Tag für Tag die Bauarbeiten verfolgt hatte. Wie die Stützpfeiler einzeln aufgezogen wurden. Wie das Tragwerk, danach die Fahrbahn, in Abschnitten herantransportiert und mit einem Kran hochgehoben und an ihren Platz manövriert wurden. Die Arbeiter kannten ihn beim Namen. Die meisten waren Kru, vor hundert Jahren hatten sie auf den Schiffen gearbeitet, die hier an- und ablegten, waren an die Nähe von Wasser, an Höhe und Taue gewöhnt. Auf eine elementare Weise schienen sie die Natur der Konstruktion zu begreifen, obwohl keiner von ihnen auch nur lesen oder schreiben

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