Lied aus der Vergangenheit
Leitung, aber nach und nach zogen die Ausländer ab und wurden durch Afrikaner ersetzt. Er muss damals ziemlich jung für einen so verantwortungsvollen Posten gewesen sein. Zu der Zeit dürfte der Patientenbestand, den er behandelte, weitgehend so sortiert gewesen sein wie überall auch: Schizophrene, Psychotiker, Depressive. Das übliche Angebot an Knallköpfen. Dann, an einem bestimmten Punkt, begann sich das zu ändern.«
Ileana brüht Tee in einer kleinen versilberten Kanne auf. Lipton Yellow Label, muss eine Ewigkeit ziehen, und selbst dann erreicht der Tee nicht mehr als einen blassen Goldton.
»In den frühen Achtzigern gab es einen Zustrom von Neuzugängen; Attila bemerkte es als Erster. Er war derjenige, der sie aufnahm. Es waren größtenteils junge Männer, zwischen sechzehn, siebzehn und Anfang zwanzig. Sie kamen aus der Stadt, aber auch aus den Provinzen, entweder ohne Angehörige oder von ihren Angehörigen aus dem Haus geworfen. Alle mit drogenbedingten Störungen. Binnen weniger Jahre hatte sich die Zusammensetzung des Patientenbestands umgekehrt. Diejenigen, die bis dahin nicht mehr als ein Zehntel ausgemacht hatten, waren jetzt die überwältigende Mehrheit.«
Sie unterbricht sich, um den Tee umzurühren und dann einzuschenken, reicht Adrian eine Tasse. In dem Raum gibt es keine Klimaanlage, ebenso wenig einen Kühlschrank. Die Fenster sind alle geschlossen. Was er jetzt wirklich gern hätte, wäre ein Glas kaltes Wasser, aber er nimmt den Tee klaglos an. Er möchte den schlechten Anfang, den er mit Ileana gehabt zu haben scheint, ausbügeln.
»Er hat an die Regierung, an die Zeitungen geschrieben. Irgendetwas braute sich zusammen. Natürlich nahm ihn keiner ernst. Die Minister lachten und sagten, er sei genauso bekloppt wie seine Patienten. Aber er ging weiter, bis zur WHO . Die Regierung wurde allmählich ärgerlich auf ihn. Arschlöcher. Er versuchte, sie zu warnen. Und dann in den Neunzigern. Krawumm!« Sie wirft beide Hände theatralisch in die Höhe. »Hunderte, Tausende von jungen Männern, zugedröhnt und sehr, sehr wütend. Kein Job. Keine Familie. Keine Zukunft. Nichts zu verlieren. Was sich die ganze Zeit zusammengebraut hatte, war mit einem Schlag da.«
In der folgenden Stille nippt Adrian an seinem Tee. Ileana holt von einem Aktenschrank eine Blechdose herunter und bietet ihm eine Auswahlmischung Kekse an. Er nimmt sich einen mit Marmelade in der Mitte, die Sorte, die er als Kind geliebt, denen er das klebrig künstliche Herz herausgeleckt hatte. So einen hat er seit Jahren nicht mehr gegessen. Ileana öffnet ein Fenster, und ein schwacher Anflug von Brise erreicht ihn. An der Wand hinter ihrem Schreibtisch hängt ein Schild mit der Aufschrift: »An manchen Tagen lohnt es sich einfach nicht, aus der Haut zu fahren.« Das Gespräch kommt wieder in Gang und schweift zu anderen Themen ab. Er fragt, wo sie studiert hat, um herauszufinden, aus welcher Ecke Osteuropas sie genau stammt.
»Tel Aviv.«
»Aha.«
Sie lächelt zum ersten Mal, in dem Wissen, dass sie ihn verwirrt hat. »Angefangen habe ich in Bukarest.«
Auf dem Weg zurück zum Eingangstor passieren sie ein Gebäude, das kleiner als die anderen ist und ein bisschen abseits steht. Draußen ist eine Wäscheleine ausgespannt, an der mehrere lappas hängen, Bahnen von bedrucktem Stoff, schlapp vor Alter und Abnutzung. Auf der Rückseite des Hauses steht eine Frau, über eine Feuerstelle gebeugt. Die Frauenunterkünfte.
»Können wir da mal reinschauen?«, fragt Adrian.
»Wüsste nicht, was dagegen spräche.« Ileana zuckt die Achseln, wirft ihre zur Hälfte gerauchte Zigarette auf den Boden und geht voran, um Adrian der Wärterin an der Tür vorzustellen.
Drinnen gibt es weniger Betten und somit mehr Platz als in der Männerstation. Der ranzige Geruch ist weniger gegenwärtig, vielleicht weil die Fenster offen stehen. Keine einzige Patientin ist gefesselt. Manche sitzen oder liegen auf ihren Betten, am hinteren Ende des Raums faltet eine Frau gerade Kleidungsstücke zusammen, direkt bei der Tür sitzt eine andere mit gekreuzten Beinen auf ihrem Bett. Sie schaut zu Adrian auf und lächelt unvermittelt und herzlich; ein Auge ist milchig trüb, ihre Hand zupft an den Bettlaken, während sie Unsinn brabbelt. Es sind größtenteils Schizophrene, erklärt Ileana, außerdem ein paar Persönlichkeitsstörungen. Gewalttätig sind nur wenige, aber man muss sie schon beobachten.
»Wenn’s um Frauen geht, versuchen die Angehörigen
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