Lied aus der Vergangenheit
hierhergekommen war beziehungsweise wer sie gebracht hatte. Sie sprach stockend, er hatte Mühe, sie akustisch zu verstehen, und war auf Salias Mithilfe angewiesen. Von Zeit zu Zeit rieb sie sich mit der Hand über das Gesicht. Dann wieder zwirbelte sie den Zipfel ihrer lappa . Und auch wenn sie nicht alle seine Fragen beantworten konnte, zeugte doch alles an ihrem Verhalten von Beflissenheit.
Obwohl er billige Tricks verachtete, hob er einen Spiegel von Ileanas Schreibtisch auf und drehte ihn zu ihr herum. »Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Aus einer Minute wurden zwei; sie starrte weiter auf ihr Abbild. Einmal rieb sie mit dem Daumen darüber. Sie beugte sich vor und legte den Spiegel auf den Tisch.
»Was haben Sie gesehen?«, wiederholte er.
Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Das Glas taugt nichts.«
Es hatte noch einen weiteren bedeutungsvollen Moment gegeben. Er ereignete sich, als Agnes dabei war zu gehen und an Salia vorbeikam, der in seiner gewohnten Haltung, die Hände hinter dem Rücken, vor dem Fenster stand. Sie hatte das Kinn gehoben und nach draußen gestarrt. Und dann hatte sie sich, in einem völlig beiläufigen Ton, bei Salia erkundigt, warum der Harmattan dieses Jahr so früh gekommen sei. War die Regenzeit so schnell wieder vorbei gewesen? Und Salia hatte, leise und respektvoll, geantwortet, die Regenzeit sei schon seit mehreren Monaten vorbei. Das war vor drei Tagen gewesen.
Heute berichtet Salia, er sei während der Nacht gerufen worden, um sich um Agnes zu kümmern. Nach den Fortschritten der letzten paar Tage war eine Verschlechterung eingetreten. Eine Störung auf der Station in den frühen Morgenstunden. Sie war erregt und aufgebracht gewesen, hatte vom Verlust einer Goldkette gesprochen und war in ihren Anstrengungen, die Station zu verlassen, schier rasend geworden. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als sie zu sedieren. Adrian hört Salia zu, der als Schattenriss vor dem Fenster steht, umgeben von Splittern weißen Sonnenlichts. Sie gehen zur Frauenstation, wo Agnes liegt und noch immer schläft.
»Sollen wir sie festbinden, wenn sie aufwacht?«, fragt Salia.
Doch Adrian findet die Vorstellung unerträglich. »Stellen Sie sie nur ruhig. Lassen Sie sie die Sache ausschlafen.«
Salias wortlose Einwilligung gibt zu verstehen, dass er es zwar anders machen würde, es aber nach Adrians Wunsch geschehen wird.
Nachmittag. Salia und Adrian sind in der Stadt. Salia steigt mit seinen blütenweißen Pflegerschuhen über die verstopfte und stinkende Abflussrinne. Händler sitzen hinter offenen Holzkisten, die auf Hockern balancieren. Salia geht zwischen ihnen hindurch, bleibt vor einem Gebäude stehen und erlaubt Adrian, die Führung zu übernehmen. Das Treppenhaus ist unbeleuchtet, die Luft schwefelig. Im ersten Stock öffnet sich die Tür zu einem großen Saal. Darinnen bewegen sich menschliche Gestalten in Lärm und Schatten zwischen Wohnzellen umher, die mit voll behängten Wäscheleinen und notdürftigen Pappwänden abgesteckt sind. Von draußen, keine zehn Meter entfernt, sieht man nichts, was auf die Existenz dieser zweiten Stadt in den Sälen des alten Kaufhauses schließen ließe. Adrian stößt mit dem Fuß gegen einen Eimer, Wasser schwappt auf seinen Schuh, der Lärm prallt dumpf von den Wänden ab. Eine Frauenstimme verflucht ihn leise. Adrian zögert, und Salia übernimmt wieder die Regie. »Wenn Sie entschuldigen, Ma?«, sagt er zu der Frau, während sie ihren Eimer in Sicherheit bringt. Er fragt sie, wo sie wohl die Person finden könnten, die sie suchen. Über ihren Eimer gebeugt, hebt sie den Kopf und deutet in eine Richtung.
Der Mann sitzt, in Unterhemd und Shorts gekleidet, auf einem Sockel, auf dem früher Kleiderpuppen aufgestellt wurden. Ja, sagt er. Er war’s, der die Frau ins Irrenhaus gebracht hat. Er wusste von Dr. Attila. Er hatte sie nicht sich selbst überlassen wollen.
»Sie wohnen jetzt hier?«, fragt Adrian.
Der Mann nickt. Zu Adrians Erleichterung spricht er Englisch. »Ich war hier Pförtner«, fügt er hinzu. »Vorher.« Er sagt es so wie alle hier – auf eine Weise, die ein Gefühl von Zeitlosigkeit vermittelt. Vorher. Es gab »vorher«. Und es gibt »jetzt«. Und dazwischen eine traumlose Leere.
»Kennen Sie sie?«
»Ja. Ihre Tochter hat früher einmal hier gearbeitet, die Frau ist von Zeit zu Zeit vorbeigekommen.«
Manchmal ging er die Tochter für sie rufen. Ein gutes Mädchen, die Tochter. Während sie wartete, plauderten er und
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