Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
unerschütterlich, als ob sie gerade deshalb so kraftvoll sei, um auf immer zu leben und den Kelch ihres Seelenschmerzes bis zum letzten Tropfen zu trinken.
Sascha wandte sich von ihr ab, niedergedrückt von der Scham über ihre eigene Sünde, bekreuzigte sich und verließ die Kirche.
An der Tür kamen ihr wieder Schwestern mit Brotkörben entgegen, auf dem Hof wartete eine weitere große Menge von Frauen darauf, eingelassen zu werden. Manche warfen sich ihr entgegen und baten um Almosen; Sascha gab alles, was sie an kleinen Münzen bei sich trug, kämpfte sich durch das Tor an der Klostermauer, nahm einen Wagen und fuhr nach Hause.
XII
Der Hohepriester der Kunst
Als sie zu Hause ankam, drangen bereits im Eingang Klänge von Klavierspiel an Saschas Ohr.
«Wer ist da?», fragte sie mit nicht zu bezwingendem Herzklopfen.
«Iwan Iljitsch ist schon lange hier, ich habe ihm dargelegt, dass Sie nicht da sind, aber er wollte warten», berichtete der Hausdiener, während er Saschas Jacke entgegennahm.
Bewegt von ihrem Ausflug, aufgewühlt von der Vorfreude, Iwan Iljitsch zu sehen, und weil er auf sie gewartet hatte, flog Sascha leichten und schnellen Schrittes die Treppe hinauf, öffnete kraftvoll die Tür und blieb strahlend, erregt vor dem Flügel stehen.
An Stelle einer Begrüßung beendete Iwan Iljitsch, als ob er ihrer Leidenschaft antwortete, ein klangvolles, mitreißendes musikalisches Thema seiner Sinfonie und erhob sich dann, um Sascha die Hand zu reichen.
«Unsere Sinfonie», rief Sascha aus.
«Unsere?», wiederholte Iwan Iljitsch spöttelnd.«Ich wäre glücklich, Alexandra Alexejewna, wenn Sie mir zu komponieren helfen könnten, aber die Sinfonie ist bereits fertig, und ich werde sie in wenigen Tagen bei einem Konzert dirigieren.»
«Ja, es war dumm, was ich gesagt habe. Doch ich habe mich so hineingefühlt, als Sie sie geschrieben haben, als Sie mir während des letzten Sommers Auszüge daraus vorgespielt haben, dass die Sinfonie auch zu einem Teil von mir geworden ist… einem geliebten Teil…», sagte Sascha leise und errötete.«Ist Ihnen das denn unangenehm?»
«Nein, ganz und gar nicht, nun…»
«Es stört Sie nicht?», unterbrach Sascha.
«Nun, nein, es stört mich nicht.»
«Und nur dies!», dachte Sascha mit Bitterkeit im Herzen.«Und so soll es auch sein, das geschieht mir ganz recht, je schlechter, je gestrenger er gegen mich sein wird, als desto gerechter werde ich es empfinden. Doch, bei Gott, wie schmerzlich ist es, wie unermesslich schmerzlich ist es! Wie sehr verlange ich nach seiner Liebe, wie unmöglich ist mir das Leben ohne diesen Menschen geworden!»
Sascha musterte Iwan Iljitsch aufmerksam; sein Blick war nun ganz ausdruckslos, nach dem Klavierspiel wie erloschen; sie suchte in die Tiefe seiner Seele zu sehen, suchte endlich zu begreifen, was er für ein Mensch sei – doch sie begriff es nicht, würde es nie begreifen können. War denn dieser geniale Musiker, der ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, tatsächlich nur Künstler, den nichts Menschliches, Weltliches mehr anrühren konnte? Tatsächlich achtete er streng darauf, dass nichts Alltägliches ihn bekümmere und beirre, womit er ja recht hatte. Er bewahrte die Reinheit, die Makellosigkeit der ihm teuren Kunst, er diente seiner Gottheit und hütete das geheiligte Feuer ihres Tempels. Er war so erfüllt von der Musik in all ihren Erscheinungsformen, dass daneben kein Platz blieb. Alles Übrige im Leben – die Natur, die Menschen, ihre Leidenschaften und Erlebnisse -, all dies hatte sich unbedingt der Musik unterzuordnen, sie war der Mittelpunkt, der von allem anderen lediglich umgeben wurde.
In der Musik Iwan Iljitschs, in seinen Werken ebenso wie in seinen Interpretationen, war Bedeutsamkeit, Erhabenheit zu spüren. Unmöglich war es, sich der Wirkung seiner Musik zu entziehen und ihr nicht jenen außerordentlichen Rang einzuräumen, den er ihr zuschrieb.
«Womit waren Sie die ganze Zeit über beschäftigt? », fragte Sascha.
«Ich habe die Orchestrierung meiner Sinfonie abgeschlossen. An den Abenden kamen meine Schüler, und ich habe sehr viel gelesen.»
Iwan Iljitsch blickte auf die Uhr und machte Anstalten aufzubrechen.
«Sie gehen schon?», fragte Sascha voller Entsetzen, wobei sie Iwan Iljitsch fest in die Augen sah.
Er erwiderte ihren Blick mit einem Stirnrunzeln und wollte noch eiliger fort.«Ich muss unbedingt nach Hause, viel zu lange schon war ich hier, während ich auf Sie wartete.
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