Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Eigentlich bin ich ja gekommen, um mich nach unserem Freund Kurlinski zu erkundigen, den Sie aufgesucht haben. Und jetzt hätte ich das doch fast vergessen.»
Sascha berichtete ausführlich von ihrem Besuch und dem Gespräch. Iwan Iljitsch äußerte sich nicht zu Saschas Tun; beim Abschied sagte er lediglich:«Sie haben wie immer nicht rational gehandelt, doch voller Kraft. Wenn man dieser Kraft eine dienliche Aufgabe gäbe, wären Sie kaum zu bezahlen!»
«Sie vergleichen mich wohl mit einer Mühle am Wasser, dessen Kraft den Mühlstein bewegt. »
«Nun ja, von mir aus auch so… Es ist eine gute Arbeit. Also, leben Sie wohl.»
Als Iwan Iljitsch ging, verspürte Sascha Unbehagen und das brennende Verlangen, ihn aufzuhalten oder ihm nachzulaufen; nach wie vor wünschte sie vergeblich, seine verschlossene, ihr rätselhafte Natur zu ergründen. Was dachte er über sie? Verstand er ihre Qual? Bei sich lachte er vielleicht über sie, verachtete sie dafür, dass sie ihn liebte, und verurteilte alles, was sie sagte und tat. Welch quälendes Geheimnis bleibt doch, was die menschliche Seele bewegt; und wie viel quälender ist es, die Gedanken eines Menschen, den man liebt, mit aller Kraft durchdringen zu wollen, es aber nicht zu können.«Wenn er doch nur ein einziges Mal zeigte, dass er etwas an mir gutheißt, dass er mich liebt, wenn es doch nur einen einzigen Augenblick des Glücks gäbe, einen einzigen Augenblick jener Liebe, die ich selbst empfinde – dies wäre mir Glück genug für den Rest meines Lebens!», dachte Sascha.
Währenddessen ging Iwan Iljitsch langsam nach Hause. Er nahm sich vor, ein möglichst großes Stück des Weges zu Fuß zurückzulegen, um sich Bewegung zu verschaffen. Andererseits durfte er sich aber nicht zum Tee und zu seinem Unterricht verspäten, den er zwei aus bescheidenen Verhältnissen stammenden, doch sehr begabten Schülern erteilte.
Als er den Boulevard entlangschritt, streiften seine Gedanken unter anderem auch Sascha.«Aus welchem Grund nur hat diese Frau einen solch großen Platz in meinem Leben eingenommen? Das mag ja ganz amüsant und reizvoll sein, nur darf ich nicht allzu sehr Feuer fangen und mich verirren. Wie gequält und gewöhnlich sie heute aussah! Und doch ist sie besonders und empfindsam», dachte er.«Aber es ist eine Belastung; ich sollte sie nicht mehr so häufig aufsuchen…»
Gleichwohl missfiel Iwan Iljitsch der Gedanke, seltener bei Sascha zu sein. Ohne dass er es wollte, behagte ihm die poetische, liebevolle Atmosphäre, mit der Sascha und ihre gesamte Welt ihn umgaben, und als er zu Hause ankam, hatte er noch keine Entscheidung getroffen.
In der kleinen, gemütlichen Wohnung Iwan Iljitschs war der Abendtee mit Brot und Schinken bereitet. Um sich die Zeit des Wartens auf seinen verehrten Herrn zu vertreiben, unterhielt sich Alexej Tichonytsch mit dessen beiden jungen Schülern. Die schlichte Einrichtung, in der der außergewöhnliche Musiker lebte, verbreitete eine heitere, unbekümmerte, herzliche Stimmung: große Schränke mit Noten und Büchern an den Wänden; in der Mitte des Zimmers zwei Flügel, auf einem großen Tisch weitere Noten und Notenpapier, an der Wand Porträts von Tschaikowski 45 und Rubinste in 46 .
«Iwan Iljitsch, meine Romanze wird veröffentlicht», rief ihm zur Begrüßung sein Lieblingsschüler Zwetkow zu.«Gerade heute habe ich das erfahren!»
«Das freut mich außerordentlich, mein Bester. Ihre Romanze gefällt mir sehr. Ich grüße Sie», wandte er sich an den anderen jungen Herrn, der, linkisch und unansehnlich, ganz das Gegenteil Zwetkows war.«Warum waren Sie denn so lange nicht mehr hier? Immer noch so von Wagner begeistert? Haben Sie schon Tee getrunken? Nun denn also, Ihre Arbeiten.»
Die Schüler reichten ihm ihre Notenhefte, und Iwan Iljitsch, der am Tisch Platz genommen hatte, vertiefte sich in die Korrektur ihrer Studien. Er unterrichtete hervorragend. Bei all seiner musikalischen Bildung besaß er zudem pädagogische Begabung, war sehr geduldig und ernsthaft, seine Erläuterungen waren stets schlüssig. Zudem war er der Jugend überaus freundschaftlich verbunden und wurde dafür von seinen Schülern zutiefst verehrt, ja geliebt, und alle empfanden es als große Ehre, bei Iwan Iljitsch zu verkehren.
«Nun denn, lassen Sie uns also Tee trinken», sagte Iwan Iljitsch, als er die Korrektur beendet hatte, um sich eine Pause zu gönnen.
Alexej Tichonytsch war fast die gesamte Zeit über anwesend. Da er den ganzen Tag
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