Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
sauber? »
«Das versteht sich. Bitten Sie um Aufnahme in die Privatklinik?»
«Was?»
«Sie können sechzig oder neunzig Rubel im Monat bezahlen?»
«Ja, natürlich. Mein Mann wird alles bezahlen. Werden Sie mich denn heilen? Können Sie das Leid meiner Seele lindern? Sie erträgt all den Schmutz nicht mehr, der in ihr ist und überall, überall… Mein Gott, es ist schrecklich! …»
Sascha begann zu schluchzen. Der Arzt klingelte, und der Soldat mit den Orden trat ein.
«Rufen Sie Maria Prochorowna. Das Privatzimmer Nummer 2 soll bereitgemacht werden. So beruhigen Sie sich doch, gleich haben wir ein Zimmer für Sie und schicken nach Ihrem Mann. Schreiben Sie die Adresse auf.»
Sascha fasste sich, dachte einige Sekunden nach, nahm all ihre Kraft zusammen, rückte an den Tisch und schrieb:
«Bezahle dem Kutscher achtzig Kopeken. Ich bin in der Heilanstalt für Nervenleiden, denn meine Willenskraft reicht nicht mehr aus, mich zu beherrschen. Komm, um mit dem Doktor über die Bezahlung zu sprechen. Schicke mir saubere Wäsche, ein sauberes Kleid und alles, was man braucht, aber sauber, sauber…
Gestern habe ich Dantes ‹Fegefeuer› 49 gelesen, und plötzlich begriff ich, dass ich über und über beschmutzt, wie ich bin, nicht ins Himmlische Konservatorium aufgenommen werden kann. Du weißt, dass Iwan Iljitsch nicht mehr in Moskau weilt. Das Wasser der Moskwa ist sehr schmutzig, und im Moskauer Konservatorium ist auch schrecklich viel Schmutz. Er konnte dies nicht ertragen, deshalb unterrichtet und spielt er nun im Himmlischen Konservatorium, wohin er auch mich berufen hat.
Lasst für mich bis dahin schnellstmöglich noch ein weißes Morgenkleid schneidern. Das meinige wurde heute mit Schmutz bespritzt, und ich bin darüber verzweifelt – noch ein weiterer Fleck…
Ich wünsche, meine Seele zu reinigen, und weder Du noch sonst irgendjemand darf sie berühren, niemand hat reine Hände, aber meine Seele ist frei…
Bitte verzeih, dass ich Dich bemühe. Sobald ich rein und gesund bin, kehre ich nach Hause zurück…«
«Genug geschrieben», unterbrach der Arzt Sascha ungehalten.«Notieren Sie nun die Adresse. »
Als Sascha zum Ende gekommen war, rief er die Feldscherin 50 und beauftragte sie, den Brief mit dem Kutscher überbringen zu lassen und Sascha in das ihr zugedachte Privatzimmer für sechzig Rubel im Monat zu geleiten.
Als Sascha sich in dem kargen Zimmer wiederfand, das lediglich mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl möbliert war, zog sie aus einer Tasche ihres Morgenkleides ihr Notizbuch hervor und entnahm ihm eine kleine Porträtphotographie von Iwan Iljitsch, die sie einst von ihm erbeten hatte.
Sie blickte sie mit verzückten Augen an und drückte sie an die Brust.«Nun stört keiner mehr unser Beisammensein! Lieber! Ich spüre deine Seele, deine Anwesenheit, nie wieder werden wir uns trennen…»
Sie trat zum Bett, legte sich nieder, schloss die Augen, und wieder erstand vor ihr ganz deutlich das Bild Iwan Iljitschs am Flügel, mit seinem ernsten, von der Musik beseelten, auf niemanden gerichteten Blick; sie hörte sein Spiel, das ihr ganzes Wesen mit Glück erfüllte.
An diesem Tag machte Sascha mit ihrem Leben ein Ende. Sie magerte ab, wurde blass, ihr schönes Gesicht wurde gänzlich durchsichtig. Die schlanken Finger bewegten sich fast ohne Unterlass, als ob sie Klavier spielte. Die großen schwarzen Augen offenbarten einmal Glückseligkeit, dann wieder Qual.
Das Lied ihrer Liebe zu Iwan Iljitsch war ohne Worte verhallt, und dies hatte ihr Leben zerstört.
Das Lied mit all seinen zärtlichen und leidenschaftlichen Motiven klang in Saschas Herzen mit jenen drei letzten Seufzern aus, mit denen Mendelssohns«Lied ohne Worte»in G-Dur zu Ende geht. Mit ihnen sollte auch ihr junges verheißungsvolles Leben zu Ende gehen… Das erste Seufzen – eine unerfüllte Liebe, das zweite – Erholung für die gereinigte Seele, das dritte – ewiges, stilles Glück. Und schließlich – pianissimo , morendo – erstirbt alles auf immer…
XVII
Vergessen
Ende April saß Iwan Iljitsch bei geöffnetem Fenster an seinem großen Schreibtisch über den Korrekturen eines musikalischen Lehrwerks, das er gerade beendet hatte und nun in Druck geben wollte.
Sein großer Kopf mit dem am Scheitel bereits spärlichen und an den Schläfen ergrauten Haar war über das Manuskript gebeugt, sein Ausdruck war ernst und konzentriert. Das profunde Lehrbuch mit seinen neuen Erkenntnissen in
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