Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
der Musiktheorie würde dem Unterricht am Konservatorium außerordentlich förderlich sein, und Iwan Iljitsch war zufrieden, eine wichtige Arbeit geleistet zu haben. Jeden Tag arbeitete er mit ungewöhnlicher Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt genau zwei Stunden, verschaffte sich dann etwas Bewegung an der frischen Luft, darauf folgte das Mittagessen und des Abends Konzerte, Besuche bei Bekannten oder Unterricht.
Wie war dies alles recht, harmonisch und gut… Er war voller Genugtuung darüber, dass er die sich selbst gestellte Aufgabe bewältigt hatte, dass die junge Generation Nutzen davon tragen würde. Umgang pflegte er ausschließlich mit Herren, mit jungen Herren, vor allem mit Musikern. Keine Unruhe, keine Aufregung… Bisweilen dachte Iwan Iljitsch an Sascha, und ihre Ergebenheit, vor allem aber ihre hohe Meinung über sein Talent schmeichelten seiner Eigenliebe. Doch nun war er es zufrieden, dass alles ein Ende gefunden hatte.
Als er die festgesetzte Zeit gearbeitet hatte, erhob sich Iwan Iljitsch, um spazieren zu gehen. Alexej Tichonytsch reichte ihm den Mantel und berichtete gleichmütig:«Diese Dame, Alexandra Alexejewna, die unsere Nachbarin im Sommerhaus war, liegt in der Heilanstalt. Kürzlich war ihr Hausknecht bei uns auf dem Hof, er war geschickt worden, hier in der Nähe etwas zu besorgen, nun ja, er sagt, sie ist am Ende gewesen, und man hat sie eingewiesen.»
«Was hat sie denn?»
«Ach, Gott weiß es, von sich aus hat sie sich in die Nervenklinik begeben.»
«Von sich aus hat sie sich dorthin begeben!», dachte Iwan Iljitsch.«Ausgezeichnet, voller Kraft bis zum Schluss!»
Für einen Augenblick entsann er sich des Abends, an dem seine Sinfonie aufgeführt wurde und er selbst sie dirigierte. Hatte wirklich er dieses leidenschaftliche Poem der Liebe geschrieben? Die Melodie hob in ihm zu singen an. Und vor ihm erstand das Antlitz Saschas, wie sie in der ersten Reihe saß, ganz in Weiß, mit Brillanten in Haar und Ohren, wie sie wonnetrunken und schwärmerisch der Sinfonie lauschte und begeistert an seinem Erfolg Anteil nahm. Sollte diese blühende Sascha nun tatsächlich in eine Klinik eingeschlossen und spurlos aus seinem Leben verschwunden sein?
Iwan Iljitsch trat auf die Straße hinaus, und etwas hatte sein inneres Gleichgewicht gestört. Er ging schnell, sein Blick eilte hin und her, er unternahm alle Anstrengung, um Sascha zu vergessen und sich auf sein Lehrbuch zu konzentrieren.
An der Straßenecke begegnete er seinem heiteren, rotwangigen Lieblingsschüler Zwetkow. Sie grüßten einander. Iwan Iljitschs unsteter Blick zeigte Freude, als er die Hand Zwetkows in der seinen hielt, und sie verabredeten, sich am Abend zu treffen, um die von Zwetkow geschriebene kurze Ouvertüre zu überarbeiten und gemeinsam zu spielen.
Am Ende des Monats erschien das Lehrbuch, Iwan Iljitsch erhielt eine ansehnliche Summe als Honorar. Zu seinem Entzücken konnte er nun seinen Traum erfüllen und mit Zwetkow ins Ausland reisen.
Während Saschas Leben in der Nervenheilanstalt verlosch, vergnügte Iwan Iljitsch sich auf seiner Reise in Gesellschaft seines jungen Freundes. Er vergaß Sascha, und die ganze Welt erstrahlte in epikureischer Glückseligkeit!
Nur ein einziges Mal noch, als er in der Schweiz an einem Haus vorbeikam, erinnerte Iwan Iljitsch sich Saschas. Aus dem Haus erklang Mendelssohns«Lied ohne Worte»in G-Dur auf der Geige. Iwan Iljitsch hielt ein, und Blut schoss ihm ins Gesicht. Doch rasch fand er seine Ruhe wieder und setzte schnell seinen Spaziergang fort. Er selbst spielte dieses Lied nie wieder.«Vergessen, vergessen, alles außer der Musik; sie allein soll meine einzige Berufung sein, mein Leben, mein Verlangen…», dachte Iwan Iljitsch.
Und alles entschwand aus seinem Gedächtnis, außer der von ihm geliebten Kunst, der er bis zu seinem Lebensende diente.
ANMERKUNGEN
1 Russ.«Kinderfrau».
2 Traditionelles Getränk der asiat. Steppenvölker aus vergorener Stutenmilch, das als Nährmittel bei unterschiedlichen Krankheiten galt.
3 Im 19. Jh. waren Frauen aller Schichten in Russland politisch rechtlos, ihre bürgerlichen Rechte waren eingeschränkt. So besaß eine verheiratete Frau keinen eigenen Pass und hatte nicht das Recht, ohne offiziell beglaubigte Erlaubnis ihres Gatten die Stadtgrenze zu überschreiten.
4 Bis 1924 gültiges russ. Gewichtsmaß. 1 Pud entspricht 16,38 kg.
5 Die Trostschrift an Marcia ( Ad Marciam de consolatione , um 40 n. Chr.) machte den röm.
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