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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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hatten, erhob sie sich leise, legte ihr weißes, mit feinen Schwanenfedern besetztes Morgenkleid an und trat in den Flur. Sie nahm ihr weißes Tuch vom Tisch, legte es über ihr Haar und verließ rasch, bevor jemand sie bemerken konnte, das Haus.
    «Kutscher! In die Klinik!», rief sie.
    «Dreißig Kopeken», sagte ruhig der Kutscher.
    «Fahr er los, schnell», trieb Sascha ihn zur Eile und warf einen Blick über die Schulter.«Ich lege noch etwas drauf.»
    «In welche Klinik, die Dame?»
    «In die Nervenklinik.»
    Während sie die Pretschistenkaja hinunterfuhren, überdachte Sascha gewissenhaft ihren Zustand. All ihre Kraft war darauf konzentriert, nichts Ungebührliches zu sagen oder zu tun. Ihr Wille aber war schwach, dies erkannte sie deutlich, eine Schleuse in ihrem Innern hatte sich geöffnet, und ungebeten strömten unbezähmbare Gedanken in ihren Kopf.
    «Ja, ich verliere den Verstand», begriff Sascha jählings.«Jetzt sage ich dem Kutscher, er soll zu Iwan Iljitsch fahren, und ich werfe mich vor ihm auf die Knie, küsse seine Hände und bitte um seine Liebe, darum, dass er für mich spiele… Nein, niemals! Diese Gefühle können und dürfen nicht vermengt werden…»
    «Schneller, Kutscher, bei Gott, schneller…»
    Da war schon das Jungfrauenfeld und linker Hand ein großes Gebäude hinter einem hohen Zaun. Die Kutsche hielt am gusseisernen Tor. Sascha stieg aus, und plötzlich fiel ihr ein, dass sie gar kein Geld bei sich hatte.«Warte, ich gebe dir einen Zettel mit, fahr damit zu dem Haus, vor dem ich eingestiegen bin, dort wird man dich bezahlen.»
    Der Kutscher brummte ärgerlich. Sascha trat vor das Tor und las im Licht der Laterne:«Universitätsklinikum für Nervenleiden». Etwas weiter unter stand rechts auf dem Schild aus irgendeinem Grund auf Französisch geschrieben: Clinique des maladies nerveuses .
    Sie ging zum Haupteingang und versuchte, die schwere Tür zu bewegen. Ein mit Orden behängter Soldat öffnete und blickte verwundert auf die weiße, erregte Erscheinung vor ihm.
    «Sie wünschen?», fragte er.
    Sascha stürzte ohne zu antworten hinein und blickte sich im Innern des Gebäudes um. Da war hinter einer Glastür ein langer, heller Korridor, ganz von Grünpflanzen gesäumt. Gleich vor ihr führte eine breite Treppe nach oben. Zur Linken lag ein weiterer langer Korridor, an dessen Ende sich das Aufnahmezimmer befand. Der soldatische Wächter verstellte Sascha den Weg, doch sie betrachtete neugierig den Ort, an den sie freiwillig gekommen war.
    «Wenn Sie sich bitte ins Aufnahmezimmer begeben wollen, gnädige Frau, hier ist der Aufenthalt nicht gestattet…»
    «Ja, gut, wo ist der Doktor?»
    «Ich werde Sie sogleich melden.»
    Bis auf dunkle Holzbänke an den Wänden standen keine Möbel im Aufnahmezimmer. Von dort führte eine geöffnete Tür ins Sprechzimmer des Arztes. Auf einer der Holzbänke saßen zwei Frauen, von denen die eine still vor sich hin weinte, während die andere sie zu beruhigen suchte.
    Sascha verdeckte ihr Gesicht mit ihrem Tuch, schloss die Augen, und in ihren Gedanken sah sie Iwan Iljitsch deutlich vor sich, sein Antlitz, seine Hände, sein ganzes Wesen.
    Sie kam erst wieder zu sich, als jemand sanft sie berührte und fragte:«Darf ich Sie in mein Sprechzimmer bitten?»
    «Ja, ist er denn dort?», fragte Sascha, den Arzt wie wahnsinnig anblickend.«Ach, bitte verzeihen Sie, ich war in Gedanken. Ja, sofort.»
    Sascha trat in das große Zimmer des Arztes, der auf einen Sessel neben seinem mächtigen, mit grünem Filz bezogenen Schreibtisch zeigte, hinter dem er sich selbst niederließ.
    «Sie wünschen, selbst behandelt zu werden oder jemanden einzuweisen?», fragte der Arzt, ahnungsvoll Saschas weißes Morgenkleid, ihre finsteren Augen und nunmehr tragische Schönheit betrachtend.
    «Ich bitte Sie, mich aufzunehmen, ich bin sehr krank: Ich schlafe nicht, esse nicht und habe alle Gewalt über mich selbst verloren, ich peinige meine Familie, ich brauche Erholung und Ihren Rat…»Sascha sprach schnell und in dem verzweifelten Bemühen, sich verständlich zu machen und von dem Arzt ernst genommen zu werden.
    «Wie das, haben Sie gar keine Verwandten, keinen Ehemann…»
    «Ja, ich vergaß. Ich muss ihm schreiben. Bitte, geben Sie mir ein Stück Papier und einen Stift…»
    «Hier, bitte. Doch sagen Sie mir, was Sie veranlasst hat, hierherzukommen? Sie sind unglücklich? »
    «Nein, nein. Ich sage es Ihnen später einmal, ich kann nicht. Ist denn bei Ihnen alles

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