LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)
der Nähe von Gull’s Point lauert. Manche nennen es Sirene; andere würden vermutlich von einem Seeungeheuer sprechen. Aber für mich klingt Sirene glaubhaft. Solange ich denken kann, verschwinden in dieser Gegend Menschen. In der Zeitung wird immer nur vor gefährlichen Strömungen gewarnt. Aber es gibt Geschichten aus dem frühen 20. Jahrhundert über Schmuggler, die draußen an den Felsen auf Grund liefen. Hin und wieder überlebte einer der Seeleute das Unglück und schaffte es, an Land zu schwimmen. Du kannst den ganzen Kram nachlesen – jeder Überlebende, der sich von einem jener Wracks ans Ufer rettete, berichtete anschließend von einer betörenden Schönheit, deren Gesang er hörte. Danach erinnern sie sich in der Regel nur noch daran, in den eiskalten Wellen um ihr Leben zu kämpfen.«
»Klingt, als hätten sie einen zu viel über den Durst getrunken.«
Entrüstet schüttelte Bill den Kopf. »Glaubst du an Gott, Evan? An Himmel und Hölle und den ganzen Scheiß?«
Evan nickte.
»So! Dann glaubst du also an eine große, unsichtbare Zahnfee oben im Himmel und an gehörnte Dämonen, die in einem Reich voller Schwefel und Lava durch die Gegend staksen, wo Tote bis ans Ende der Zeit endlose Qualen erleiden? Und wahrscheinlich existiert in deiner Vorstellung auch ein Fegefeuer, in das Seelen kommen, die nicht gar so schlecht waren. Die es nicht verdient haben, dass ihnen Dämonen ständig mit dem Dreizack in die Augen stechen. Die stattdessen ihre Sünden ausschwitzen, bis sie irgendwann in ein geheimes Paradies voller Milch, Honig und Harfenklänge gelangen. Habe ich recht?«
Evan verzog das Gesicht. »So würde ich Himmel und Hölle vielleicht nicht unbedingt beschreiben.«
»Studier Milton. Und Das Buch der Offenbarung ist ebenfalls ein Knüller!«
»Hast du diese Woche einen Online-Kurs in englischer Literatur belegt, oder was?«
»Denk doch mal nach«, forderte Bill, ohne auf die Stichelei einzugehen. »Du glaubst an diesen ganzen metaphysischen Unsinn, den nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Aber ein reales Wesen aus Fleisch und Blut, über das seit Jahrhunderten immer wieder geschrieben wird und Augenzeugenberichte existieren, tust du als Spinnerei ab?«
Kopfschüttelnd wandte Bill sich wieder seinem Schreibtisch zu. »Mann, wir wissen bei Weitem noch nicht alles. Und manches werden wir vermutlich nie erfahren. Es gibt immer noch ungelöste Geheimnisse auf der Erde. Pass auf dich auf!«
»Pass auf dich auf!«, hallten Bills Worte in Evans Kopf nach, als er an diesem Abend nach Einbruch der Dunkelheit seinen Strandspaziergang unternahm. Er hatte Bill nichts von seinem Rendezvous mit Ligeia erzählt. Dabei hatte er es eigentlich vorgehabt; er musste es jemandem beichten. Doch nach ihrem Gespräch über das vermisste Mädchen war ihm der Zeitpunkt irgendwie unpassend erschienen.
Darum war sein Herz heute Abend ein einziges Chaos aus Begierde und Schuldgefühlen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, auf das Flanieren am Strand dieses eine Mal zu verzichten, aber … jetzt war er hier. Er wollte sie wiedersehen. Allerdings schwor er sich, diesmal auf der Hut zu sein. Er musste mit ihr reden. Musste in Erfahrung bringen, wer sie war. Außerdem wollte er sich für letzte Nacht entschuldigen. Weil er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mit ihr geschlafen hatte. Er war verheiratet; zwar nicht gerade glücklich, schließlich war das letzte Jahr das schlimmste seines Lebens gewesen. Aber das lag nicht an seiner Frau. Er liebte sie und wollte keine andere. Auch wenn er mit Ligeia den mit Abstand besten Sex seines Lebens genossen hatte.
Aber er war verheiratet. Vergeben.
Der Wellengang war ruhig, es gab so gut wie keine Gischt. Aus Nordwest blies ein kalter Wind heran. Ihn fröstelte. Irgendwo in der Nähe schrie in der Finsternis eine einsame Möwe, nur einmal. Evan schob die Hände in seine Taschen und starrte auf das helle Glitzern, mit dem sich der Mond in den feuchten Lachen spiegelte, ehe sie im dunklen Sand versickerten. Nachtaktive Krebse huschten ihm aus dem Weg, schossen wie lauernde Spinnen am Wasser entlang, um sich ein Stückchen Tang oder Fisch zu schnappen und anschließend im nächsten Sandloch zu verschwinden. Am Strand mochte es nachts ruhig sein, aber das Leben gönnte sich keine Pause.
Evan bückte sich, um ein winziges, braun und rosa gesprenkeltes Muschelhorn aufzuheben. Am dickeren Ende verfügte es über ein paar beeindruckende Stachelfortsätze. Er steckte es in die
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