LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)
ungefähr auf gleicher Höhe, wo er jetzt schwamm. Langsam bewegte er sich am Grund entlang, auf der Suche nach … wer wusste das schon so genau? Knochen? Einem tiefen Loch?
Insgeheim musste er über diesen Tauchgang lachen. Tief im Innern war Bill ein äußerst pragmatischer, realitätsnaher Mensch. Nicht unbedingt der Typ, auf den man mit dem Finger zeigte, um zu behaupten: »Da hätten wir also einen Kerl, der an Gespenster glaubt.« Doch Bill war von klein auf mit den Todesfällen konfrontiert worden, und es passierte mit zu großer Regelmäßigkeit, um es als bloßen Zufall abzutun. Dieser Küstenstrich blickte auf eine lange, recht drastische Vergangenheit zurück, und die abenteuerlichen Geschichten aus den letzten Jahrhunderten fanden in den Ereignissen der Gegenwart ihre Fortsetzung, obwohl die Menschen inzwischen deutlich weniger abergläubisch zu sein schienen.
Zumindest redeten sie nicht offen darüber.
Es war nicht weiter verwunderlich, dass Evan noch nie von der Meerjungfrau vor Delilah gehört hatte. Anders als Bill war er nämlich nicht hier aufgewachsen. Und … nun ja … es war ein ungeschriebenes Gesetz, mit Auswärtigen nicht darüber zu reden. Niemand würde je zugeben, dass er an so offenkundigen Blödsinn glaubte. Aber wer in den 80er-Jahren in Delilah gewohnt hatte … der wusste Bescheid. Bescheid über die Leichen. Über die ganzen Vermissten, die Monat für Monat, Jahr für Jahr verschwanden, bis eines Tages ein Hurrikan über die Stadt hinwegfegte und sie an die Küste spülte. Der Strand war von Leichen übersät gewesen, ähnlich wie die Straßen der Stadt von herumliegenden Trümmern der Häuser.
Verfaulte Armknochen, ausgehöhlte Schädel, Leichen, die teilweise nur wenige Tage oder Wochen in ihrem nassen Grab zugebracht hatten – über Nacht waren sie inmitten des heulenden Windes und sintflutartiger Regenfälle ans Ufer geschwemmt worden. Man sprach vom schlimmsten Sturm, den Kalifornien seit 100 Jahren erlebt hatte. Was Delilah betraf, war es mit Sicherheit der grausigste.
In den Zeitungen stand, die Leichen gingen auf das Konto von Haien. Eine tornadoartige Wasserhose habe die zerfetzten Körper »ertrunkener Schwimmer« an die Oberfläche getrieben. Doch Bill wusste, wie ein von Haizähnen malträtierter Körper aussah. Am Tag, nachdem der Sturm das Haus seiner Eltern halb abgedeckt hatte, war er am Strand spazieren gegangen, um dem Albtraum zu entgehen, den der Orkan zurückgelassen hatte. Neben einem alten, verrotteten Balken war er über einen halb im Ufersand begrabenen Toten gestolpert.
Der Körper des Mannes war von Bisswunden gezeichnet, ein paar davon auf blauen, in allen Regenbogenfarben schillernden, von dem durchlittenen Schmerz zeugenden Hautstellen. Andere nur dadurch erkennbar, dass etwas fehlte – weißes, fahles Fleisch am Rande klaffender Löcher, wo die Muskeln vollständig vom Knochen gerissen worden waren. Um ein Haar hätte Bill sich übergeben müssen. Doch nachdem er den anfänglichen Würgereiz überwunden hatte, war er langsam näher getreten und hatte die sich am stinkenden Kadaver gütlich tuenden Sandkrabben aufgescheucht, um das groteske Ding zu inspizieren, das einst ein Mensch gewesen war. Und er fand sich in der Annahme bestätigt, dass es sich unmöglich um das Werk eines Haies handeln konnte.
Die violett verfärbten Blutergüsse auf dem nackten Torso und den Schenkeln des Mannes passten in keinster Weise zu den breiten Kiefern des riesigen Knorpelfischs. Vielmehr wiesen sie die passende Größe auf, um von einem menschlichen Gebiss herzurühren. Bill kannte jedenfalls kein Tier, das derartige Zahnabdrücke hinterließ. Hin und wieder schreckte er nachts immer noch mit dem Bild des verstümmelten Mannes vor Augen aus dem Schlaf.
Im Anschluss an den »Todessturm« wurde in Delilah die Legende von der Meerjungfrau eine Zeit lang in aller Öffentlichkeit diskutiert und die Geschichten vor Angst halb verrückter Seeleute, die mit ihrem letzten Atemzug eine Beschreibung von ihr ablieferten, genüsslich durchgekaut. Doch schließlich verstummten diese Stimmen, als die Bewohner sich der dringlicheren Aufgabe zuwandten, die Toten zu bestatten und ihre Häuser wieder aufzubauen. Manchmal wurde noch auf den Schulhöfen über sie geflüstert oder in den Gärten der Gruppenleiter während der Wichtelstunden. Wer daran glaubte, wollte sich nicht zum Gespött derjenigen machen, die nach 1984 und dem Leichensturm nach Delilah gezogen waren. Sie
Weitere Kostenlose Bücher