LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)
behielten diesen schrecklichen Aberglauben für sich, hielten sich nachts vom Strand fern und nickten bloß wissend, wenn etwas über eine »vermisste Person« in der Zeitung stand.
Ja, Bill hatte die Rückkehr der Vermissten als Kind miterlebt. Und es war kein schöner Anblick gewesen.
Mit einem Mal fiel der Meeresgrund ab, und plötzlich hing Bill in der fahlen Leere zwischen der nur noch verschwommen wahrnehmbaren Oberfläche und der finsteren Tiefe. Die Schatten wurden länger. Er folgte dem Hang und begriff, dass der steile Abfall genau an der Stelle erfolgte, die auch das äußere Ende der Felszunge markierte. Nun befand er sich tatsächlich im offenen Meer.
Mühelos schwamm Bill durch die diffuse Dunkelheit und genoss das Gefühl der nahezu schwerelosen Bewegung. Tauchen, dachte er sich, war beinahe so, als befände man sich im freien Fall. Man betrat eine vollkommen andere Welt, die unabhängig von jeglicher Schwerkraft zu funktionieren schien.
Nach ein paar Minuten machte er kehrt. Der Meeresgrund erstreckte sich als endlose Aneinanderreihung von Felsbrocken und hin und wieder Seetang. Er entschloss sich, den Schelfhang als Bezugspunkt zu nutzen; dann würde er ein paar Hundert Meter hinaus- und wieder zurückschwimmen, um ein paar Meter weiter links von vorne zu beginnen. Da er keine Ahnung hatte, wonach er eigentlich suchte, wollte er das Gebiet auf diese Weise systematisch durchkämmen.
Als er zum zweiten Mal losschwamm, fiel ihm mit Ausnahme eines farbenfrohen, neugierigen Fischschwarms nichts von Belang auf. Ein faustgroßer Kugelfisch folgte ihm ziemlich lange, seine beinahe menschlich wirkenden blauen Augen musterten ihn starr.
Beim dritten Mal fing er an, das Ganze ermüdend zu finden. Evan hatte recht; es war aussichtslos. Selbst wenn es eine Meerjungfrau gab, wie kam er bloß darauf, er könne ihren Unterschlupf ausfindig machen? Wollte er das überhaupt? Das Bild der grünen und blauen, sich allmählich violett verfärbenden Haut des nackten Toten, über den er als Kind am Strand gestolpert war, tauchte vor seinen Augen auf, und eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken.
Er wollte auf keinen Fall in ähnlichem Zustand ans Ufer gespült werden.
Bill war kurz davor, aufzugeben, als er den Schatten unter sich bemerkte. Bisher war der Meeresgrund nur als trübes, verschwommenes Gewirr aus Felsen und Pflanzen an ihm vorbeigeglitten, aus dem sich hin und wieder ein Fisch aus der Deckung wagte … doch mit einem Mal verdüsterte sich die Unterseelandschaft und wandelte sich zu einem finsteren Loch im Erdreich.
Bill trat Wasser und machte kehrt, umkreiste die Düsternis. Dann sank er zwischen den Schatten in die Tiefe hinab. Er konnte unregelmäßige Umrisse mit Ecken und Kanten ausmachen. Felsen und Pflanzen versperrten ihm die Sicht, doch als er den Grund erreichte und die Hand über einen verkeilten Balken gleiten ließ, wurde ihm plötzlich klar, womit er es zu tun hatte: eines der Wracks aus Hidden Bay, Delilahs abgeschiedener Bucht.
Seine Hand berührte die zersplitterten, überwucherten Überreste des Bugs. Die düstere Finsternis, die ursprünglich seine Aufmerksamkeit erregt hatte, entpuppte sich als klaffendes Loch im Mittelteil des Schiffes. Beim Sinken war der gewaltige Rumpf auf die Seite gedreht worden, sodass das Leck gen Wasseroberfläche wies. Das Wrack wirkte älter als der umgebende Ozean. Hätte er nicht plötzlich ein Stück Holz in der Hand gehabt, wäre Bill gar nicht auf die Idee gekommen, dass es sich um ein Schiff handeln könnte. Im Laufe der Jahre musste es Zentimeter um Zentimeter in den Meeresboden eingesunken sein. Mittlerweile war jede zerbrochene Planke unter einer dicken Schicht aus Pflanzen, Geröll, Schlamm und Muscheln verschwunden.
An Land hätte Bill einen leisen Pfiff ausgestoßen. Stattdessen stieß er sich mit den Füßen im Schlick ab, schwamm an den verborgenen Konturen des Wracks entlang und nickte vor sich hin, als er sah, wie es an manchen Stellen aus dem Grund herausragte und wieder an anderen vollkommen überwuchert war und festsaß.
Er duckte sich unter einem Felsüberhang hindurch – dem letzten schmalen Streifen der sich noch tief unter der Oberfläche dahinziehenden Landzunge – und begann auf das Loch im Rumpf des uralten Schiffes zuzupaddeln. Er vermochte zwar nicht zu sagen, um was für einen Schiffstyp es sich handelte, aber es war mit Sicherheit kein Vergnügungsdampfer gewesen. Dazu war der Rumpf zu breit, die Wölbung des
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