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LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)

LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)

Titel: LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Everson
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schaffte, bevor er mehrere Meter vom Ufer entfernt in der Tiefe versank, schenkte er den Wellen ein vergnügtes Lächeln.
    »Let me touch you now, forever«, rezitierte er eine Passage aus einem seiner Lieblingssongs, während er ausholte und Stein für Stein mit schicksalergebener Präzision aus der Hüfte schleuderte. »Just this one last time …«, krächzte er und zog die letzten Worte wie ein schwermütiges Gebet in die Länge.
    Er häufte weitere Kiesel an und wühlte zwischen ihnen herum, um die Steine mit den flachsten Kanten auszusortieren. Im Geist hörte er immer noch, wie Josh ihn zu einem sogenannten Skip-Off herausforderte. Sorgfältig hatte sein Sohn fünf flache, abgerundete Steine ausgesucht und Evan dazu ermuntert, das Gleiche zu tun. »Wer die meisten Hüpfer hat, bezahlt das Eis«, verkündete Josh jedes Mal. Danach hatten sie abwechselnd ihre Steine geworfen und nach jedem Wurf laut verkündet, wie oft der Stein aufgekommen war: »Drei, sechs, vier … sieben!«
    Beim Steine-Hüpfen-Lassen spielte es keine Rolle, wie alt man war. Evan gewann ebenso häufig wie Josh. Auch wenn hinterher doch meistens er das Geld fürs Eis aus der Tasche zog.
    »Du gibst mir eben nicht genug Taschengeld«, hatte Josh sich immer beklagt, wenn sie das rot-weiß gestreifte Gebäude des Süßwarenladens im Stadtzentrum betraten.
    »Mhm, mhmmm«, lautete Evans Standardantwort. »Wenn man nicht zahlen kann, darf man sich eben nicht auf eine Wette einlassen.«
    »Wirf schon den Stein«, schien ihm Joshs Stimme nun in seinem Kopf zuzuflüstern – ein Gespenst, das sich strikt weigerte, zu verlieren. Evan tat wie geheißen und beobachtete, wie der flache Kiesel vier, fünf, sechs, sieben und schließlich noch ein achtes Mal über die Wellen hüpfte, ehe er in den finsteren Ozean eintauchte.
    »Ha!«, rief Evan, ohne sich daran zu stören, dass außer ihm niemand da war. »Geschafft, ich hab’s geschafft«, lachte er. »Gewonnen«, flüsterte er mit einer an Hysterie grenzenden Stimme.
    Er blickte sich um, und der Sonnenschein seines Tagtraums zerrann. Die Stimme seines Sohnes verstummte. Da waren nur er, die unaufhörlich gegen das Ufer brandenden schwarzen Wellen des Ozeans und der dunkle, kalte Sand unter dem erbarmungslosen Nachthimmel.
    Er öffnete seine Hand, und die verbliebenen Steine rieselten zusammen mit den Sandresten, die an ihnen klebten, heraus. »Verdammt«, flüsterte Evan. Er starrte aufs Wasser hinaus und ließ das Bild vor seinen Augen erstehen, wie sich die Hand seines Sohns in der Luft öffnete und schloss, ehe sie ein für alle Mal verschwand. Er bekam feuchte Augen und hatte einen Kloß im Hals. »Verdammt!«, sagte er laut.
    Er ballte die Hände zu Fäusten und bemühte sich, nicht länger an Josh zu denken, versuchte, den schrecklichen Tag aus seinem Gedächtnis zu verdrängen. Schon viel zu oft hatte er ihn durchlebt und heute Abend wollte er gerne auf eine weitere Rekapitulation der Ereignisse verzichten. Was er gleich vorhatte, war schwer genug, auch ohne dass er seinen Jungen vor seinem geistigen Auge wieder und wieder sterben sah. Trotzdem begann sein Brustkorb sich, so wie stets, schneller zu heben und zu senken. Evan krümmte sich zusammen und schluckte schwer, verzweifelt bemüht, die Tränen zurückzuhalten. Allerdings ohne Erfolg. Zuletzt gab er einfach nach und ließ sie ungebremst fließen. Langsam tropften sie in den Sand. »Josh, mein Kleiner, du fehlst mir so«, schluchzte er und umklammerte seine Brust mit den Armen, als wolle er jemanden in die Arme schließen. »Ich liebe dich, Kumpel«, flüsterte er, obwohl niemand da war, der es hören konnte. »Ich liebe dich so sehr.«
    Nachdem Evan die Fassung zurückgewonnen hatte, warf er einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach zehn war. Seit fast einer Stunde wartete er auf Ligeia. Das war ungewöhnlich.
    Er stand auf und ging zu dem schmalen, auf den grauen Schiefer der Felsnadel führenden Pfad hinüber und kämpfte sich, den grünlich weißen Häufchen Möwenkot ausweichend, zum gegenüberliegenden Rand der Klippe vor. Hier spielte die zum Greifen nahe, klaustrophobisch anmutende Leere den Sinnen einen Streich, wobei die finstere Tiefe des Ozeans mit dem Himmel verschmolz.
    »Ligeia«, rief er aufs Meer hinaus.
    Keine Antwort. Außer den rollenden Wogen war nichts zu hören. Doch damit gab Evan sich nicht zufrieden. Wieder und wieder versuchte er es und strengte sich an, das Rauschen der Brandung zu übertönen.

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