Lila Black 02 - Unter Strom
zur gleichen Abteilung. Ist seine Chefin.« Das war nicht gelogen. Seine Chefin beim Geheimdienst, nicht seine Chefin beim Auswärtigen Amt. »Seit er in Rente gegangen ist, arbeite ich für sie.«
»Und sie hat sichergestellt, dass du kein Telefon hast.«
Lila sog zischend die Luft ein. »Mir ging es wirklich schlecht.«
»Ging es uns nicht allen so?«
Sie liefen weitere hundert Meter.
»Weißt du, nachdem du weg warst, kam ein Mann und erzählte uns, dass du nach Alfheim gereist und einfach nicht zurückgekommen wärst. Es war alles sehr geheimnisvoll. Er gab Mama und Papa einen fetten Scheck. Entschädigung. Ich wollte immer schon mal Teil eines Spionagethrillers sein. Du nicht? Sicher doch, oder? Der Wunsch, dass irgendwas geschieht, das die langweilige, immer gleiche Routine durchbricht.«
Maxines Stimme nahm einen angewiderten Tonfall an. »Natürlich haben sie es alles verplempert. Mamas Hälfte wurde zu einem Chipstapel, der die große Wende herbeiführen sollte, Papas ging in Wodka und den Golfclub und all das. Wir hielten Gartenpartys ab. Wir hatten eine große Trauerfeier für dich. Mit Pferden, dem ganzen Brimborium. Papa gab einem Typen Tausende, damit er nach dir suchte. Er kam nie zurück. Ich dachte mir schon, dass er ein Betrüger war, aber sie verloren die Hoffnung nie.«
»Was hast du getan?«, fragte Lila leise.
»Ich? Ich habe im Organic Café gearbeitet, vegetarische Burger auf die harte Tour gemacht, Sachen in den Entsafter geworfen, die Stunden abgerissen. Meine Freundin, May Lee, traf eine andere Frau, also zog ich für eine Weile wieder zu Hause ein. Ich habe auf ein Motorrad gespart.« Für einen Augenblick wurden ihre Haltung und ihr Ausdruck fröhlicher.
»Ich bin mit den Hunden spazieren gegangen. Habe einen Tai-Chi-Kurs besucht und den ganzen Gesundheitsscheiß mitgemacht. Am Anfang habe ich dir Briefe geschrieben. Kamen alle zurück. Natürlich haben mir meine Freundinnen sehr geholfen. Ich ziehe nächste Woche zu Addie und Ydel. Sie haben ein Zweifamilienhaus in den Heights.«
Sie gingen weiter, zu dem lichten Wald und den Klippen, an denen die Wellen sich so heftig brachen, dass niemand dort schwamm.
Max schwieg eine Weile, aber Lila spürte, dass ihre Schwester diejenige war, die die Fragen stellen musste, darum schwieg sie ebenfalls, ging neben ihr und fühlte die sanfte, aufmerksame Anwesenheit Taths, der seit ihrer Ankunft in Otopia noch nichts gesagt hatte. Sie hatte nicht daran gedacht, dass er vielleicht noch nie hier gewesen sein könnte. Er wollte nicht eingreifen, aber er konnte sich auch nicht weiter zurückziehen. Er lief einfach so mit.
Max kramte in den Taschen ihrer Jeans, holte Streichhölzer hervor und ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten. Sie zündete eine an und warf das Streichholz mit einer geübten Bewegung des Handgelenks weg, durch die es zum einen ausging und zum anderen in dem Blasentang zu ihren Füßen landete. Die Wellen des Meeres waren flach. Die Hunde untersuchten die grasbewachsenen Teile der Dünen, die sich zum Wald hinauf erstreckten. Max steckte sich die Zigarette in den Mund und ihre Hände in die Taschen, blickte über die Klippen hinaus. »Bringen wir es hinter uns. Was könnte dich nur dazu bringen, eine Betrügerin, eine Spielerin und einen Trinker zu verlassen?«
Lila erkannte an Max etwas, das früher nicht da gewesen war. Selbsthass. Dies schlug eine unzweifelhaft sehr starke Saite in ihr an. Ihr Magen zog sich zusammen. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihr Ohr, aber die Worte waren bereits wie im Automatikmodus unterwegs: »Sprich nicht so von Mama und Papa!«
»Warum nicht?« Max klang fast fröhlich. Die Zigarette bewegte sich zwischen ihren Lippen auf und ab, beinahe wie der Hammer eines Richters. »Es ist doch die Wahrheit. Ich verstehe schon, warum du es getan hast. Verdammt, wer hätte es nicht? Wir haben unser beschissenes Leben hier am Strand verschwendet, darauf wartend, dass wir von Piraten gerettet werden.«
»Sie haben sich zusammengerissen!«, brüllte Lila voller Wut. »Sie haben uns aus Bella Vista rausgeholt. Wir sind zur Schule gegangen! Wir hatten eine gute Zeit …«
Max lachte mit zurückgeworfenem Kopf, sodass sich der dünne Hals mit dem hervortretenden Kehlkopf deutlich gegen den blauen Himmel abzeichnete. »Wir waren auf der Flucht, als gäbe es kein Morgen. Du musstest natürlich die sein, die entkommen ist. Ein netter Bürojob. Warst so schlau. Dann dein Unfall oder was auch immer. Und jetzt
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