Lilien im Sommerwind
Großmutter nie gefragt, und Iris hatte das Thema nie angeschnitten.
»Wir sind fast da.« J. R. rutschte in seinem Sitz hin und her, und Tory spürte, dass sich auch seine Laune veränderte. »Nach dem, was ich als Letztes gehört habe, hat Han in irgendeiner Fabrik gearbeitet. Sie, äh, haben ein Stück Land gepachtet und Hühner gehalten.«
»Ich verstehe.«
J.R. räusperte sich, als wolle er noch etwas sagen, schwieg dann aber, bis er schließlich von der Hauptstraße auf einen mit Splitt bestreuten Feldweg einbog. »Ich war noch nie hier. Sarabeth hat mir den Weg beschrieben.«
»Ist schon gut, Onkel Jimmy, mach dir keine Gedanken wegen mir. Wir wissen beide, was uns erwartet.«
Man sah ein paar kleine, verwahrloste Häuser. Ein verrosteter Pickup mit geborstener Windschutzscheibe stand aufgebockt auf einem staubigen Hof. Ein hässlicher schwarzer Hund zerrte an seiner Kette und bellte wütend. Direkt daneben saß ein Kind mit wirren schwarzen Haaren, das nichts als angegraute Baumwollunterwäsche trug, auf einer kaputten Waschmaschine. Das kleine Mädchen lutschte am Daumen und blickte dem schicken Cabrio nach.
Ja, sie wussten, was sie erwartete, dachte Tory.
Der Weg stieg ein wenig an und gabelte sich dann. J. R. stellte das Radio aus und fuhr langsam und vorsichtig um die Schlaglöcher herum.
»Hier sind unsere Steuergelder gut angelegt«, versuchte er einen Witz zu machen. Dann jedoch seufzte er und bog in den Weg ein, der zum Haus führte.
Nein, kein Haus, korrigierte sich Tory. Ein Schuppen. So etwas konnte man nicht als Haus bezeichnen, und noch viel weniger als Heim. Das Dach war eingefallen und wies große Lücken auf. Der ursprünglich graue Anstrich war abgeblättert, und eins der Fenster war mit Pappe geflickt. Der Garten war von Brennnesseln und Disteln überwuchert, und mitten in ihm lag eine alte gusseiserne Spüle mit einem faustgroßen Loch im Becken.
Hinten neben dem Haus stand eine graue, schmutzige Metallhütte mit dunklen Rostflecken. Ein Maschendrahtzaun war darum herumgezogen und in der Einfriedung pickten ein paar magere Hühner im Dreck.
Ein beißender Geruch hing in der Luft.
»Jesus Christus«, murmelte J. R. »Ich habe nicht gedacht, dass es so schlimm sein würde. Das muss doch nicht sein. So weit hätte es doch nicht kommen müssen.«
»Sie weiß, dass wir hier sind«, sagte Tory und öffnete die Wagentür. »Sie hat schon auf uns gewartet.«
J. R. schlug seine Wagentür zu und legte die Hand auf Torys Schulter, als sie auf das Haus zu gingen.
Sie fragte sich, ob er ihr Unterstützung geben wollte oder selbst danach suchte.
Die Frau, die auf der Schwelle erschien, hatte graue Haare. Steingraue Haare, die straff aus ihrem schmalen Gesicht zurückgekämmt waren. Sie hatte tiefe Falten um den Mund, und ihre Mundwinkel waren nach unten gezogen.
Sie trug ein zerknittertes Baumwollkleid, das ihr zu groß war, und ein kleines, silbernes Kreuz baumelte zwischen ihren schlaffen Brüsten.
Aus rot geränderten Augen blickte sie Tory an, dann sah sie schnell wieder weg, als ob der Anblick sie verbrennen könnte.
»Du hast nicht gesagt, dass du sie mitbringst.«
»Hallo, Mama.«
»Du hast nicht gesagt, dass du sie mitbringst«, wiederholte Sarabeth und drückte die Glastür auf. »Habe ich nicht schon genug Sorgen?«
J.R. drückte Torys Schulter. »Wir sind hier, um dir zu helfen, Sari.« Er trat ein, wobei er Tory immer noch an der Schulter festhielt.
Drinnen roch es nach Abfall und schalem Schweiß. Nach Hoffnungslosigkeit.
»Ich weiß nicht, was du tun kannst, es sei denn, du bringst diese Frau, diese verlogene Schlampe dazu, dass sie die Wahrheit sagt.« Sarabeth zog ein zerdrücktes Taschentuch aus der Tasche ihres Kleides und putzte sich die Nase. »Ich bi n mit meinem Latein am Ende, J. R. Ich glaube, meinem Han ist etwas Schreckliches zugestoßen. So lange ist er noch nie weg geblieben.«
»Wollen wir uns nicht setzen?« J.R. legte seine Hand jetzt auf die Schulter seiner Schwester und blickte sich um. Der Magen zog sich ihm zusammen.
Es gab ein durchgesessenes Sofa mit einem schmutzigen gelben Überwurf und einen hässlichen grünen Sessel. Die Tische waren übersät mit Papptellern, Plastiktassen und Essensresten. Ein verrußter Holzofen stand in der Ecke, sein fehlendes viertes Bein war durch einen Holzklotz ersetzt worden.
An der Wand hing ein Bild des schmerzensreichen Jesus in einem billigen Drahtrahmen.
Da seine Schwester ihr Gesicht immer noch im
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