Lilienrupfer
›Song for a Winter’s Night‹ von Sarah McLachlan. Und dann schrieb ich:
Lilienrupfer, es ist zwar nicht die Jahreszeit, aber irgendwie der
Augenblick
, um leichtsinnig und überschwänglich zu sein. So sind wir Apfelchilis eben. Hier einer meiner Lieblingssongs und ich hoffe, Du kriegst Gänsehaut beim Hören. Gute Nacht, Undine.
Ich hörte das Lied selbst zweimal hintereinander, fühlte wie immer den Kloß im Hals und legte dann die ›Italienischen Duette‹ von Händel auf. Ich öffnete die Tür zum Balkon, ließ frische Luft herein, legte mich auf die Couch und lauschte der Musik. Und mitten in diesen überirdischen Engelsgesang hinein, erklang das Arpeggio meines Computers, das eine neue E-Mail ankündigte. Christian hatte geantwortet:
Das ist wunderschön und entführt mich augenblicklich nach Nirgendwo … Freu mich auf viel mehr Musik, auf viel mehr Undine, auf die zweite Runde der präkoitalen Phase und auch auf ihr Ende. Freu mich auf alles. Christian
Merkwürdig, Robbie, gerade sehe ich Dich einmal nicht grinsen. Gerade sehe ich einen sehr stillen Robbie. Einen mit verlorenem Blick.
Undine
***
Am nächsten Morgen war Ronny wieder da. Gestützt auf einen Stock mit Silberknauf, hinkend, aber mit erhobenem Kopf. Selbstironie und Humor umwehten ihn wie ein dünngewebtes Cape.
»Ah, der junge Herr Wilde«, kommentierte Franz seinen Auftritt und spuckte Ronny anschließend dreimal über die linke Schulter. »Toi toi toi. Man kann es einfach nicht früh genug sagen.«
»Hals- und Beinbruch wäre in seinem Fall passender«, warf ich ein und lächelte Ronny zu.
»Das stimmt«, antwortete er, »wobei der Sage nach, ein kräftiges Spucken und ein von Herzen kommendes ›toi toi toi‹ den Teufel fernhalten soll. Aber wie gesagt«, sein Blick schweifte bedeutungsvoll zu Milan, der dazugekommen war, »eben nur der Sage nach …«
Ich wusste, worauf er anspielte und sagte: »Vielleicht sollten wir dann die Dosis erhöhen. Apropos: Alles noch glattgegangen gestern Abend? Schmerzfreie Nacht?«
»Undinchen, diese Stadt ist voller wunderbarer Drogen. Keiner muss da Schmerzen leiden.«
»Er hat sich von seinem Hubertus einen blasen lassen und spricht jetzt von dem bisschen Adrenalin, das ihm danach durch die Adern gesickert ist.«
Ich drehte mich zur Seite und blickte in Milans schmales Gesicht. Er war Tänzer und hatte die Rolle des Puck übernommen, die Franz eigens für ihn in das Stück hineingeschrieben hatte. Bis auf ein Suspensorium tanzte er die Rolle zur Musik von Mendelssohn-Bartholdy nackt, den Körper in Bronzefarbe getaucht. Es war eine von Franz’ großartigsten Ideen, mich überlief jedes Mal ein Schauer,wenn ich die Eröffnungsszene sah: Der Zauberwald in Gold und Grün – und Milan, statuenschön, der ein Pas de deux mit der Blauen Blume tanzte. Wir alle hatten vor Ergriffenheit die Luft angehalten, als wir ihn zum ersten Mal so sahen. Wie konnte jemand von solcher Begabung und Schönheit gleichzeitig so voller Verachtung und Bosheit sein? Gegen Ronny allerdings kam er nur selten an: »Schlechte Verdauung, Herzchen? Das tut mir leid. Konntest du deinen Irrigator nicht finden?«
»Schließt du immer von dir auf andere?« Wenn er nicht weiterwusste, war Milan von bestürzender Trivialität.
Ronny lächelte mild, zuckte die Schultern und schlug den Weg zur Garderobe ein.
»Alles klar mit der Fahrradaufhängung?«, rief Franz Sekunden später Wolfgang, dem Bühnenarbeiter zu, der auf einer der Holzstreben des Schnürbodens hockte und mit verschiedenen Werkzeugen hantierte.
»Hier oben war nie etwas kaputt«, teilte er uns dumpf mit. »Alles so, wie es sein soll. Es war das verdammt Drahtseil, das gerissen ist. Ich versteh’s einfach nicht, Franz. Wir haben uns hundertprozentig an die TÜ V-Vorschriften gehalten.«
»Na ja, ist ja noch einmal gut gegangen«, beruhigte Franz ihn ungewöhnlich sanft. Überrascht blickte ich von Textbuch und Notizen hoch und folgte seinem Blick, der unterhalb des Notausgangsschilds hängen geblieben war. Julia stand dort in einer der Seitentüren. Ihr helles Haar schimmerte in dem Licht wie ein Glorienschein.
»Sie haben das hier gestern Abend in meinem Wagen vergessen.« Sie überreichte Franz einen seiner Bäckerbeutel.
»Das ist aber wirklich nett, dass Sie sich deswegen her bemühen«, antwortete er servil wie nie.
»Ich dachte, vielleicht können Sie ohne das nicht leben und natürlich wollte ich auch hören, wie es
Weitere Kostenlose Bücher