Lilith Parker
gab, sie konnte die aufsteigende Panik nicht mehr zurückhalten. Strauchelnd kämpfte sie sich auf ihre FüÃe.
»Ich will weg von hier!« Ihre Stimme zitterte so sehr, dass Imogen sie wahrscheinlich kaum verstehen konnte. »Ich will heim, jetzt sofort!«
»Das verstehe ich«, versuchte Imogen sie zu beruhigen. Sie hielt einen langen Ast in ihre Richtung, doch Lilith war noch lange nicht in seiner Reichweite. »Was du gerade erlebst, ist schrecklich, doch du musst jetzt Ruhe bewahren! Leg dich wieder hin und versuche, vorsichtig in meine Richtung zu robben. Schaffst du das?«
Lilith zitterte am ganzen Leib. Das Knacken des Eises schien immer lauter zu werden, es kam nun aus allen Richtungen.
»Es wird alles wieder gut! Du musst nur tun, was ich sage!«, flehte Imogen.
Sie atmete tief durch, wischte sich die Tränen von den Wangen und nickte. »Okay, ich reià mich zusaâ¦Â«
Doch es war zu spät.
Ein vielstimmiges Knacken ertönte, viel lauter als vorhin bei Vincent, und es lief auf ein einziges Zentrum zu â genau auf die Stelle, an der Lilith stand.
Sie warf einen letzten verzweifelten Blick auf Imogen, dann gab das Eis unter ihren FüÃen nach. Dunkelheit und Kälte umfingen Lilith und zogen sie mit sich in die Tiefe.
Plötzlich schien alles ganz einfach zu sein. Die Finsternis, die Angst und die Kälte wurden verdrängt von einem warmen, sonnigen Licht. Aller Schmerz, jede Qual fielen von Lilith ab und zurück blieben nur Friede und Erleichterung. Sie hatte das Gefühl, endlich heimzukehren, an einen Ort, den sie, ohne es zu wissen, schon lange vermisst hatte.
Dann hörte sie eine sanfte Frauenstimme, die zu ihr schwebte wie der Hauch eines Sommerwindes. » Nein, Lilith, es ist noch nicht an der Zeit. Du musst zurück, meine Kleine! «
»Mama? Bist du das?«
Doch sie erhielt keine Antwort. Genauso unvermittelt, wie das Licht erschienen war, erlosch es wieder. Mit unerwarteter Heftigkeit wurde sie in die Dunkelheit zurückgeworfen und zugleich fühlte sie die bleierne Schwere ihres Körpers, ihre schmerzenden Muskeln und eine tiefe Müdigkeit. Unwillig drehte Lilith ihren Kopf auf dem Kissenhin und her. Was sollte sie hier? Sie wollte wieder zurück, zurück zu dem Licht, zu ihrer Mutter.
Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr, doch die Worte blieben nur Geräusche, die keinen Sinn ergaben. Erst nach einigen Augenblicken konnte sich Liliths Bewusstsein an die Oberfläche kämpfen und den Zusammenhang der Worte begreifen.
»⦠ihr Körper war vollkommen ausgekühlt, deswegen müsst ihr sie unbedingt warm halten. Wenn sie aufwacht, bereite ihr diesen Tee zu. Schmeckt übel, hilft aber.«
War das nicht Emmas Mutter? Lilith versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Irgendetwas schien sie im Dunkel festzuhalten.
»Wird sie denn wieder gesund?«, fragte Mildred besorgt.
»Sicher wird sie das!«, gab Cynthia im Brustton der Ãberzeugung zurück. »Wahrscheinlich wird es einige Tage dauern, bis ihr Körper wieder zu Kräften kommt. Am besten ihr lasst sie schlafen, sie braucht jetzt viel Ruhe.«
Sprachen sie etwa von ihr? Lilith versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Warum lag sie hier im Bett? Wieso schien sich Mildred Sorgen um sie zu machen? Aber sosehr sie sich auch anstrengte, es tauchten nur unzusammenhängende Erinnerungsfetzen vor ihrem inneren Auge auf: Ein kleiner Junge rannte vor ihr durch den Wald. Schwarzes Wasser, eisige Kälte und Luftblasen, die an die Oberfläche stiegen. Und ein Gefühl von groÃer Angst.
Was hatte das zu bedeuten? Warum fühlte sie sich so unglaublich erschöpft und kraftlos?
Sie hörte ein Rascheln und das Klirren einiger Flaschen, danach das Klacken eines Taschenverschlusses. »Wenn etwas sein sollte, gib mir Bescheid. Ach ja, und das hier ist für dich, zur Beruhigung.«
»Ich brauche keine Medizin«, lehnte Mildred schroff ab.
»Das ist keine Medizin, das ist der selbst gebraute Schnaps meiner Tante Hetty. Ein Gläschen davon und das Leben erscheint dir wie ein Spaziergang auf einer blühenden Sommerwiese.«
Mildreds Erwiderung hörte Lilith schon nicht mehr, denn sie glitt wieder in die Dunkelheit hinab und fiel in einen tiefen Schlaf.
Als sie erneut erwachte, hielt jemand ihre Hand. Obwohl Liliths Augenlider immer noch zu schwer waren, um sie zu
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