Lilith Parker
mehr.«
»Bitte, streng dich an, das ist wichtig! Was hattest du dort zu suchen und wieso bist du auf das Eis gelaufen? Dort stehen doch überall Warnschilder.«
Die Warnschilder ⦠Lilith runzelte die Stirn. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie sie den Text eines Schildes las und ⦠plötzlich hatte sie das Bild eines Jungen im Kopf, der mit glücklichem Lachen auf dem Eis herumsauste.
»Da war ein kleiner Junge. Ich glaube, ich bin ihm auf das Eis gefolgt. Hat Imogen ihn denn nicht gesehen?«
»Nein, es war niemand auÃer dir dort. Auch nicht im Wasser, Imogen war sich absolut sicher. Lilith, hältst du es für möglich, dass dieser Junge, den du gesehen hast, gar nicht real war? Könnte es sein, dass diese ganze Geschichte etwas mit deinen Bansheekräften zu tun hat?«
Verunsichert wich Lilith ihrem Blick aus. Auch wenn sich kein weiterer Erinnerungsfetzen mehr einstellen wollte,fühlte sie trotzdem die Gewissheit, dass Mildred mit ihrer Vermutung richtig lag. »Es wäre möglich.«
»Ich hatte so gehofft, dass es eine andere Erklärung dafür gibt.« Mildred stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub ihren Kopf in den Händen. »Es sind deine Kräfte, Lilith. Sie geraten völlig auÃer Kontrolle.«
»Werde ⦠ich etwa verrückt?«
»Wenn Banshees nicht geschult werden, kann es passieren, dass die vielen Albträume und Todesbilder ihr Verhalten und ihr Wesen verändern. Wer könnte es ihnen verübeln? Es muss schrecklich sein, das Grauen und die Angst der Sterbenden ständig vor Augen zu haben. Sie wissen nicht mehr, was sie tun, sind nicht mehr Herr ihrer selbst. Diese Banshees beginnen dann manchmal, ihre Kräfte dazu zu benutzen, um zu töten. Man nennt sie Seelenvampire, weil sie ihren Opfern mit dem Todeskuss die Seele aussaugen.«
Mildred schwieg einen Moment und starrte angestrengt auf ihre Jeans hinab, als sei dort im meerblauen Stoff die Antwort auf all ihre Sorgen verborgen. SchlieÃlich fragte sie: »Könnte es sein, dass du vielleicht doch etwas mit Amaros Tod zu tun hast? Hast du irgendeine verschwommene Erinnerung, die mit der Hydra oder der Kuriositätenausstellung zu tun hat?«
»Nein.« Nur mit groÃer Mühe konnte Lilith sich zu dieser Lüge zwingen. Aber sie brachte es auch nicht über sich, Mildred von ihrer mysteriösen Vision zu berichten, nicht heute. Es war schlimm genug, dass sie selbst ihre Unschuld und ihren klaren Verstand infrage zu stellen begann, siewollte nicht auch noch Mildreds Zweifel schüren. Bevor Lilith ihr von der Vision erzählen würde, musste sie zuerst einmal selbst Gewissheit erlangen. Irgendwie musste sie mehr über Banshees und ihre Fähigkeiten herausfinden!
»Du hast doch Familie Norwich einen Brief geschrieben und sie um Hilfe gebeten, oder nicht? Vielleicht finden sie eine Erklärung dafür, was heute mit mir geschehen ist.«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien sich Mildreds Körper zu verkrampfen, dann setzte sie ein Lächeln auf, das seltsam gezwungen wirkte. »Ja, vielleicht wissen sie tatsächlich etwas darüber.«
Lilith kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Du hast mir versprochen, dass wir keine Heimlichkeiten mehr voreinander haben!«
»Ja, schon«, gab sie widerstrebend zurück. »Die Wahrheit ist, dass ich die Antwort der Familie Norwich schon erhalten habe. Sie haben uns ihre Hilfe verweigert.«
»Aber warum denn?«
»Sie sind sehr traditionsbewusst und befolgen streng die Gesetze von Baron Nephelius. Ich habe dir ja schon erzählt, dass dein GroÃvater und deine Mutter kein besonders gutes Verhältnis hatten, damit habe ich die Sache wohl etwas beschönigt â¦Â« Sie stockte.
»Jetzt rück endlich raus mit der Sprache!«, verlangte Lilith. Sie spürte, wie ihre Kräfte wieder nachlieÃen und sich in ihren Gliedern eine bleierne Erschöpfung ausbreitete. Anscheinend konnte Cynthias Tee auch keine Wunder bewirken. »Ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Also gut, aber damit du alles verstehen kannst, musst dudich auf eine längere Geschichte gefasst machen«, warnte Mildred sie vor und begann zu erzählen: »Als deine GroÃmutter Cosima mit Cathy schwanger wurde, war sie schon relativ alt, selbst für eine Banshee. Eigentlich hatten sie und Edward nicht mehr zu hoffen gewagt, noch einen Erben
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