Lilith Parker
»Interessante Verwandtschaft hast du da.«
Der rote Popel bewegte sich, was bei einem Gemälde eher ungewöhnlich war, und schlieÃlich drückte sich das kreisrunde Etwas sogar aus dem Bild heraus. Bei näherer Betrachtung erkannte Lilith dunkelrote Augen, kurze Ãrmchen und Beinchen und eine spärliche Kopfbehaarung, die die Farbe von Erdbeermarmelade hatte. Das Wesen bemerkte Lilith, wackelte mit den runden Ohren und streckte ihr mit einem frechen Grinsen die Zunge heraus.
»Das Ding hat mich angespuckt!«
»Verflixt, Ungeziefer.« Emma zog ein Pumpspray aus ihrem Notfallbündel.
»Hast du gerade Ungeziefer gesagt?«
»Das sind rote Fossel. Zum Glück, denn blaue Fossel sind nicht so einfach zu beseitigen, weil sie so klein sind. Man spürt sie nur, weil sie einen beiÃen.«
»Und was machen die roten Fossel?«
»Die nerven, wo sie können: fressen deine Hausaufgaben, klauen dir dein Lieblingsessen vom Teller, verursachen einen Kurzschluss im Fernseher, wenn du dir gerade eine tolle Sendung anschaust. Da sie Geistwesen sind, können sie fliegen, durch Wände gehen und sich bei Bedarf unsichtbar machen.«
Der Fossel drehte sich zu Matt, zeigte ihm demonstrativ den Zeigefinger und wartete augenscheinlich auf seine wütende Reaktion.
»Dafür nimmt man den Mittelfinger, du Depp!«
Der Fossel stutzte und sah auf seinen Zeigefinger, während seine Wangen einen leichten Gelbstich annahmen. Doch ehe er Matts Rat befolgen konnte, sprühte Emma ihn ohne Mitleid mit einer nach Rosen duftenden Flüssigkeit ein. Der Fossel fing an zu würgen und zu husten, verblasste immer mehr und war schlieÃlich ganz verschwunden.
Lilith warf Emma einen prüfenden Seitenblick zu. »Gibt es denn noch mehr geisterhaftes Ungeziefer?«
»Wenn dieser Fossel alles war, was uns begegnet, können wir uns glücklich schätzen.« Emma setzte eine hoffnungsfrohe Miene auf.
Strychnin stand am Ende des Ganges vor einer Ebenholztür und räusperte sich vernehmlich. »Wir haben das Ziel erreicht, Eure Ladyschaft! Ich präsentiere die Bibliothek von Nightfallcastle.«
Er versetzte der Tür einen Stoà und vor ihnen tat sich die gewaltigste Bibliothek auf, die Lilith je gesehen hatte, jedenfalls auÃerhalb einer Bücherei. In Regalen, die sich bis zur Decke erstreckten, reihte sich Buchrücken an Buchrücken,sodass es sogar eine Empore gab, die man über eine Wendeltreppe erreichen konnte. Ãberall im Raum warteten eingestaubte Lesesessel auf einen Benutzer und ein eiserner Kronleuchter sowie vielarmige Kerzenständer waren bereit, einem Leser in den Nachtstunden Licht zu spenden.
»Hier das richtige Buch zu finden, wird verdammt schwer«, meinte Matt düster.
»Baron Nephelius war sehr stolz auf seine umfangreiche Bibliothek«, erzählte Strychnin. »Er stellte eine ausgesuchte Sammlung an Todesdichtung zusammen, für die er von vielen Kennern beneidet wurde, und regelmäÃig musste er Besucher beherbergen, die seine Auswahl an transsilvanischer Blutprosa studieren wollten. Ab und an durfte ich Eurer Lordschaft sogar ausgesuchte Werke der Menschheit vortragen.« Strychnin richtete sich auf und hob seine rechte Dämonenhand in dramatischer Geste:
»Und alle unsre Gestern führten Narren
Den Pfad zum staubigen Tod. Aus, kleines Licht!
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ists, erzählt
Von einem Blödling, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet.«
Er blickte sie erwartungsvoll an und die drei applaudierten pflichtgefällig. »Das war aus Macbeth!«
»Sehr schön«, lobte Lilith ihn. »Könntest du uns jetzt vielleicht verraten, wo die Bücher sind, die mit Nightfallcastle zu tun haben?«
»Sehr wohl, hier entlang!« Er führte sie zum Ende des Raumes und deutete auf eine Regalreihe, in der neben Büchern mit ledernen Einbänden und goldener Beschriftung auch in Leinen gebundene Heftchen und Mappen standen. »Wenn ich mich recht entsinne, bewahrte Euer GroÃvater hier die Chroniken der Nephelius-Familie und die geschichtlichen Niederschriften über die Insel auf. Wenn diese Bibliothek etwas über den Zauber des Tores enthält, müsste es hier zu finden sein.«
»Oje, das scheint alles in
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