Lily und der Major
dafür. Caleb, auf demselben schwarzen Wallach, der am
Tag zuvor den Buggy gezogen hatte, führte die Kolonne an.
Lily blieb vor dem Hotel stehen,
fasziniert von Calebs Kraft und Autorität. Sie wartete darauf, daß er sie
ansah, um dann hochmütig den Kopf abwenden zu können, aber er bedachte sie mit
keinem Blick.
»Sergeant Haywood«, sagte er scharf,
und ein Mann in der ersten Reihe salutierte.
Caleb erwiderte den Gruß.
»Übernehmen Sie das Kommando. Ich komme in wenigen Minuten nach.«
»Ja, Sir«, antwortete
Sergeant Haywood, ein untersetzter Mann mit rotem Bart. Er führte sein Pferd
neben Caleb, hob einen Arm und schrie: »Kompanie – Marsch!«
Während die Soldaten langsam zur
Stadt hinausritten, ritt Caleb zu Lily hinüber, saß ab und band die Zügel um
einen Pfosten. Dann zog er den Hut und trat zu Lily auf den Bürgersteig.
Obwohl sie schon einen Ausflug mit
ihm gemacht hatte, sogar von ihm geküßt worden war, erfaßte sie in
seiner Gegenwart eine unerklärliche Verlegenheit. »Guten Morgen«, sagte sie
schüchtern.
Er nahm eine ihrer Hände und ließ
seine behandschuhten Finger sanft darübergleiten. »Ich freue mich schon, dich
am Samstag von der Kutsche abzuholen«, sagte er aufrichtig.
Lily schluckte vor Verwirrung. Sie
kannte keinen anderen Menschen, der sie derart mühelos aus der Fassung zu
bringen verstand. Allmählich kam ihr sogar
der Verdacht, daß Caleb imstande war, ihr ihre Träume auszureden und sie durch
andere zu ersetzen. Es war eine Einsicht, die sie erschreckend fand.
»Lily?«
Erst jetzt merkte sie, daß sie nicht
geantwortet hatte. »Ja, ich freue mich auch«, sagte sie. Doch das war nur die
halbe Wahrheit, denn ein Teil von ihr
fürchtete diesen Samstag wie ein Sünder das Jüngste Gericht. Caleb hatte eine
beängstigende Macht über sie.
Für einen Moment sah es fast so aus,
als wollte der Major sie küssen – mitten auf der Straße. Aber dann lächelte er
nur, setzte seinen Hut wieder auf und
schlenderte zu seinem Pferd zurück. Als er aufgesessen war, betrachtete er Lily
noch einen Momentlang, dann ritt er seinen Männern nach.
Sie fühlte sich verwirrt wie nie
zuvor. Sie mochte Caleb Halliday gar nicht. Er war unerträglich dreist
und arrogant, und seine Absichten ihr gegenüber waren alles andere als ehrenhaft.
Warum hatte sie dann zugestimmt, zu
diesem Ball zu gehen?
Lily seufzte. Weil sie ein bißchen
Zauber in ihrem Leben brauchte. Weil eine schöne Nacht auch ihr einmal vergönnt
sein durfte, wenn doch sonst ihr ganzes Leben nur aus harter Arbeit bestand.
Kopfschüttelnd betrat Lily das Hotel
und ging in den Speisesaal, um die Tische zu decken.
Sie war gerade damit fertig, als die
Postkutsche draußen hielt und zwei Passagiere ausstiegen. Einer war eine
schöne, dunkelhaarige Frau in einem lilafarbenen Reisekleid. Der andere war
Lilys angenommener Bruder Rupert.
Sie stand da wie versteinert, als
Rupert höflich die Tür aufhielt und dann nach der Dame eintrat. Seine blauen
Augen blitzten auf, als er Lily erblickte.
»Hier steckst du also!« sagte er
anklagend.
In Gedanken sah Lily sich wieder,
wie sie sich heimlich aus dem kleinen Haus davongestohlen hatte, das sie und
Rupert bewohnten, ihre ganze Habe in einem schäbigen kleinen Koffer.
Rupert war sehr unvernünftig
gewesen, aber sie bedauerte jetzt, daß sie ihm Sorgen gemacht hatte. Sie sah
die Müdigkeit in seinem Gesicht und den Staub von
der langen Reise auf seinem Schulmeisterrock. Sein dunkles, sonst so welliges
Haar hing ihm strähnig in die Stirn und
sah aus, als sei er ständig mit den Fingern hindurchgefahren.
Die Dame warf Lily einen Blick zu,
lächelte geistesabwesend und nahm Platz. »Ich hätte gern eine Tasse Kaffee,
wenn es Ihnen recht ist«, rief sie mit einer Stimme, die Lily an helles
Glockengeläut erinnerte.
»Ich muß arbeiten«, informierte Lily
Rupert und wandte sich ab, um in die Küche zu gehen.
Doch Rupert packte ihren Arm und
drehte sie zu sich herum. »Du hättest wenigstens schreiben und mir mitteilen
können, wie es dir geht!« meinte er gereizt. Lily schob das Kinn vor, machte
jedoch keine Anstalten, sich loszureißen. Rupert mochte ein Schulmeister sein,
aber er war stark. »Du wärst nur gekommen, um mich nach Hause zurückzuholen.«
»Da hast du recht. Genau deshalb bin
ich hier«, entgegnete er hart.
»Lily!« brüllte Charlie aus der
Küche.
»Setz dich, Rupert, bevor ich meinen
Job verliere!« zischte Lily.
Erstaunlicherweise gehorchte er, und
Lily
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