Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
»den Winter über, indes wir nur wenig Hoffnung hatten, zunehmend schwächer und kränker wurde«.
    Die Auskünfte der Ärzte sind wenig besser. Sie diagnostizieren Schmerzen und schwere Erkältungen und ›Diffusion des Herzens‹. Robert E. Lee, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit während des Kriegs an einer Angina gelitten hatte und an einem Herzanfall gestorben war, wurde abwechselnd rheumatische Reizung, venöse Verstopfung und Ischias zugeschrieben. Die modernen Diagnosen waren nur deshalb zusammengepuzzelt worden, weil jemand daran gedacht hatte, die Symptome aufzuschreiben. Sonst hätte niemand auch nur die leiseste Idee gehabt, woran er gestorben war.
    Wie auch immer, Willie Lincoln bekam eine ›Erkältung‹ und starb an Lungenentzündung oder Typhus oder vielleicht auch an Malaria – was es auch gewesen sein mag, es war möglicherweise ansteckend, denn sein Bruder Tad war ebenfalls krank – oder an etwas ganz anderem, und er lag im Grünen Zimmer aufgebahrt und wurde anschließend zur Begräbnisfeier in das östliche Zimmer gebracht.
    Das Begräbnis war gut dokumentiert, obwohl ich Randall beiseitelegen und in dem Durcheinander von Brouns Studierzimmer nach den Einzelheiten suchen mußte. Die Regierungsgebäude waren am Tag des Begräbnisses geschlossen, was Justizminister Bates irritierte, der den Kommentar abgab, Willie sei »von seinen Eltern zu sehr vergöttert worden«. Lincoln, sein Sohn Robert und Mitglieder des Kabinetts waren zugegen, aber nicht Mrs. Lincoln. Der Geistliche Dr. Gurley hielt den Gottesdienst, Willie wurde auf einem Leichenwagen verstaut, und dann, wie bei Tom Tita, der Katze, verlor sich seine Spur.
    Randall brach gefühllos hinter der Begräbnisfeierlichkeit ab; alle anderen, die ich las, zitierten Sandburg, und Sandburg sagte unbekümmert, Willies Leichnam sei zur Beerdigung zurück in den Westen geschickt worden. Das wurde er auch, aber nicht vor 1865. Dessen war ich mir sicher. Lloyd Lewis hatte jede Einzelheit von Lincolns Trauerfeier und der langen Zugreise nach Springfield beschrieben, Willies Sarg eingeschlossen, der im Leichenwagen vor dem seines Vaters stand, also wurde er erst nach drei Jahren ›in den Westen zurückgeschickt‹, und Sandburg mußte es von allen am besten wissen.
    Sandburg hatte Lewis von den alten Chicagoer Reporterzeiten her gekannt. Er nannte ihn ›Freund Lewis‹, als er die Einleitung zu Lewis Der Lincoln-Mythos schrieb. Ich fragte mich, ob Sandburg vergessen hatte, was Lewis über Willie geschrieben hatte, oder ob etwas zwischen ihnen vorgefallen war, etwas, das die Freundschaft zwischen ihnen beendete und das dazu führte, daß sie ihre Bücher gegenseitig nicht mehr lasen. Oder steckte vielleicht ein Mädchen hinter alledem?
    Doch selbst bei Lewis, der eine Fundgrube für alle Lincolnforscher war, stand nichts darüber, wo Willies Leichnam drei lange Jahre über gewesen war. Sollte ich davon ausgehen, daß er die ganze Zeit über im östlichen Zimmer gelegen und Lincoln Alpträume verursacht hatte? Oder hatte man ihn im Vorgarten des Weißen Hauses beerdigt?
    Es war Viertel vor vier. Ich stellte die Bücher dorthin, wo sie vielleicht auch dann noch sein würden, wenn ich sie das nächste Mal brauchte, und rief Annie an.
    Sie war schläfrig, und das beruhigte mich. Sie hatte nicht in ihrem nassen Mantel am Fenster gestanden und in den Schnee hinausgeschaut und Richard zugehört, der ihr erzählte, daß sie verrückt sei. Sie hatte geschlafen.
    »Wie geht es dir?« fragte ich.
    »Gut«, sagte sie, aber langsam, in einem fragenden Ton.
    »Fein. Ich habe mir wegen dir Sorgen gemacht. Ich hatte Angst, du könntest dich draußen in Arlington erkältet haben.« Erkältet haben. Ich redete wie ein Bürgerkriegsdoktor.
    »Nein«, sagte sie, und diesmal klang sie ein wenig selbstgewisser. »Richard hat mir heißen Tee gemacht und mich ins Bett gebracht. Ich glaube, ich bin eingeschlafen.«
    »Annie, läßt dich Richard etwas einnehmen? Irgendwelche Medikamente?«
    »Richard?« sagte sie, und wieder hatte sie den schwachen fragenden Ton in ihrer Stimme.
    »Ist Richard da?« fragte ich.
    »Nein«, sagte sie, und das war bis jetzt das einzige, worüber sie sich ganz sicher zu sein schien. »Er ist im Institut.«
    »Annie«, sagte ich mit dem Gefühl, vom Fuß eines Hügels zu ihr hochzurufen, »nimmst du irgendwelche Medikamente, irgendwelche Tabletten?«
    »Nein«, sagte sie durch ein Gähnen hindurch.
    »Als du das erste Mal im

Weitere Kostenlose Bücher