Linda Lael Miller
Schmuck und
ihre besseren Kleider in Boston zurückgelassen, wo sie sicher untergebracht
waren in dem großen, düsteren alten Haus, das sie erst kürzlich von ihrer
Tante geerbt hatte, der Frau, die sie damals, als sie ihren Mann verlassen
hatte, aufgenommen hatte.
Zufrieden
mit ihrer Erscheinung, wandte sie sich vom Spiegel ab und bewunderte Jessies
weichfließendes grünes Kleid. »Eins muß man dir lassen, Jessie«, bemerkte sie
lächelnd. »Du bist wirklich alterslos. Ich hege nicht geringsten
Zweifel, daß Captain Sommervale und all seine jungen Soldaten dir heute abend
zu Füßen liegen werden.«
Jessie
lächelte dünn; es war offensichtlich, daß sie Annabels Kompliment als leere,
bedeutungslose Schmeichelei empfand. »Sie sind hier, weil jemand ihre Rinder
gestohlen hat, zwischen Gabes Ranch und dem Fort«, antwortete sie. »Sie haben
erst kürzlich zweihundert Stück verloren.«
Annabel war
sicher, daß Gabe sich darum kümmern würde, und sagte es auch, ein wenig brüsk
vielleicht, als sie mit Jessie über den Korridor zur Treppe ging.
Jessie
wandte sich am Kopf der Treppe um, aber ihr Gesicht war im schwachen Licht des
frühen Abends nur undeutlich zu erkennen. »Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte
sie. »Wenn das das Schlimmste wäre, würde ich heute nacht gut schlafen.«
Annabel,
die sich gerade fragte, welche der geschlossenen Türen auf dem langen Gang zu
Nicholas' Zimmer führen mochte, horchte plötzlich auf. »Wie meinst du das?«
fragte sie beunruhigt.
Es sprach
für Jessie, daß sie Annabels Blick erwiderte und ihm nicht auswich. »Es gibt
Leute, die behaupten, Nicholas habe etwas damit zu tun. Mit den
Viehdiebstählen, meine ich. Und mit anderen Dingen auch. Schlimmeren Dingen.«
Annabels
Magen war plötzlich wie ein Eisklumpen und verkrampfte sich dann so heftig,
daß sie glaubte, sich übergeben zu müssen. »Das ist ausgeschlossen!«
Jessie
wandte sich ab und begann, die Treppe hinabzusteigen. »Ist es das?« fragte sie
über die Schulter, ohne sich umzusehen. »Nicholas war ein sehr schwieriges
Kind, Annabel. Er brachte sich andauernd in irgendwelche Schwierigkeiten. Er
trinkt zuviel, prügelt sich zuviel und hält den Rekord hier in der Stadt für
die meisten Nächte im Gefängnis. Schon mit fünfzehn brach er jedem Mädchen hier
das Herz, mit Ausnahme von Callie, Marshal Swinglers Tochter, und mir scheint,
daß er jetzt auch daran arbeitet.«
»Jessie
McKeige«, sagte Annabel am Fuß der Treppe, und ihr Ton zwang ihre Schwägerin,
sie anzusehen, »warum hast du mir nichts davon geschrieben?« Jessie hatte nach
dem Tode ihres Mannes ihren Mädchennamen wieder angenommen.
»Ich
dachte, wenn du hier sein wolltest, wärst du hiergewesen«, erwiderte Jessie
nüchtern. Kühl.
Annabel hätte
am liebsten die Hand erhoben und sie ins Gesicht geschlagen, aber sie
beherrschte sich. Sie dachte an ihren Vater und seine ausschweifende
Lebensweise, und der unvermeidliche Vergleich zwischen Nicholas und seinem
ehrlosen Großvater entsetzte sie. »Was ist mit Gabriel? Was ist das für ein
Vater, der zusieht, wie sein eigener Sohn zum Trinker und Banditen wird?«
»Einer, der
weiß, daß alle Menschen Fehler machen, einige
schlimme, andere weniger schlimme«, erwiderte Jessie. »Gabriel glaubt an
Nicholas, und ich auch. Er wird von selbst wieder zur Vernunft kommen – falls
er nicht vorher am Galgen oder im Staatsgefängnis endet.«
Wieder
mußte Annabel sich sehr beherrschen, um nicht die Hand gegen ihre Schwägerin zu
erheben. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, nicht mehr zu tun, als Jessie
an den Schultern zu packen und sie zu schütteln. »Vielleicht seid ihr bereit,
untätig zuzusehen, wie mein Sohn sich selbst zerstört«, flüsterte sie wütend,
»aber ich bin es nicht! Ich werde etwas unternehmen.«
»Ach ja?
Was denn, Annabel?« fragte Jessie ruhig.
Tränen der
Hilflosigkeit und Sorge brannten hinter ihren Lidern. »Ich weiß es nicht«,
murmelte sie unglücklich. »Aber ich schwöre dir bei Gott, daß ich etwas finden
werde!«
In dem
Moment klopfte es an der Tür, dann wurde sie aufgestoßen, und Gabriel stand in
der Halle. Sogar in dem grasbefleckten Hemd und der zerknitterten Hose, die er
beim Picknick getragen hatte, wirkte er attraktiv, und das leicht zerzauste
Haar und der Ansatz eines Barts taten noch ein Übriges hinzu.
Er nickte
Jessie zu und richtete dann den Blick auf Annabel.
»Ich will
mit dir reden!« verlangte sie und stürmte vor, um seinen Arm zu nehmen
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