Linda Lael Miller
Aber dir selbst zuliebe, Lyn, mußt du
aufhören, für mich zu sorgen. Du bist nicht für mich verantwortlich.«
»Aber
jemand muß sich um dich kümmern ...«
»Das tut
schon jemand«, unterbrach Gloriana ihn. »Ich.«
Er kehrte
ihr den Rücken zu und starrte in die Flammen, aber Gloriana hatte sein
zorniges Erröten schon gesehen. »Und das gelingt dir ausgezeichnet, nicht?«
versetzte er. »Bei diesem Regen auf einem uralten Friedhof herumzulaufen ...«
Gloriana
schloß für einen Moment die Augen. Lyn versuchte schließlich nur zu helfen, so
lästig ihr seine Bemühungen auch waren. »Ich gebe zu, daß das ein Fehler war«,
erwiderte sie. »Ein schwerer Fehler. Aber das heißt noch lange nicht, daß ich
einen Vormund brauche.«
Lyn ließ
die Schultern hängen. »Gloriana«, meinte er nach langem Schweigen, »die
Vergangenheit ist tot. Bitte, laß mich dir eine Zukunft bieten.«
Tränen
schimmerten in Glorianas Wimpern, aber sie wischte sie ab, bevor Lyn sich
umdrehen und sie sehen konnte. »Ich habe eine Zukunft«, erwiderte sie.
»Was ich brauche, ist ein Freund.«
Da schaute
er sie endlich wieder an. »Du wirst immer einen Freund in mir haben«, beteuerte
er feierlich.
»Das hoffe
ich«, erwiderte sie. »Denn ich weiß nicht, was ich ohne deine Hilfe angefangen
hätte.«
Damit
schien sich ein neues, wenn auch noch zaghaftes Verständnis zwischen ihnen zu
entwickeln. Lyn verzichtete auf jede weitere Erwähnung seiner persönlichen
Gefühle und brachte Gloriana statt dessen einen Teller von Mrs. Bonds köstlichem
Lammgulasch, das er von zu Hause mitgebracht und auf Janets Herd erhitzt hatte.
Während
Gloriana aß, noch immer in ihrem bequemen Sessel am Kamin, nahm Lyn Professor
Steinbeths Manuskript an sich.
»Ich werde
Arthur mitteilen, daß du nicht in der Verfassung bist, es zu Ende zu lesen«,
sagte er.
Gloriana
war empört. »Jetzt kommandierst du mich schon wieder herum«, warf sie ihm vor.
»Ich werde die mir gestellte Aufgabe vollenden. Aus persönlichen Gründen,
Lyn.«
Resigniert
hob Kirkwood beide Hände. »Na schön«, meinte er. »Dann werde ich Arthur sagen,
daß du gut vorankommst.«
»Danke«,
erwiderte Gloriana und lächelte.
Lyn warf
einen Blick auf seine Uhr. »Ich muß gehen«, sagte er. »Ich habe noch
Krankenbesuche zu erledigen.« Er beugte sich
vor und küßte Gloriana aufs Haar. »Gute Nacht, Liebes.«
Statt einer
Antwort drückte sie seine Hand, und er zog seinen Mantel an und ging.
Gestärkt
von der Medizin, mehreren Stunden Schlaf und der kräftigen Mahlzeit, nahm
Gloriana sich wieder Professor Steinbeths Manuskript vor.
Wenige
Minuten später schon war sie vollkommen vertieft in die Worte, die vor so
langer Zeit geschrieben worden waren. Da Gloriana den Bericht über Kenbrooks
Tod bereits gelesen hatte, fiel es ihr nun leichter, sich auf das Leben und
Treiben der nachfolgenden Generationen zu konzentrieren.
Am frühen
Morgen hatte sie das Manuskript zu Ende gelesen, und da sie noch immer nicht
müde war, duschte sie und ging in den Laden hinunter, um zu öffnen.
Mehrere
Kunden kamen und unterbrachen die gewohnte Monotonie, und Gloriana verkaufte
sogar einige Bücher an einen amerikanischen Touristen.
Sie war
allein im Laden, stand auf der obersten Stufe der Trittleiter und stellte ein
Buch an seinen Platz zurück, als ein jäher Schmerz ihren Kopf durchzuckte und
ihr schwarz vor Augen wurde. Kalter Schweiß brach überall an ihrem Körper aus,
und verzweifelt klammerte sie sich an die Leiter, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren und zu stürzen.
Sie sah
nichts als schwarzen Nebel, durchsetzt mit Lichtblitzen, und spürte, wie ihr
Bewußtsein ihr entglitt. Und dann stürzte sie.
Sie stürzte
und stürzte, wie die blonde Alice, von der sie vor so langer Zeit gehört hatte,
in den Kaninchenbau gestürzt war. Sie machte sich darauf gefaßt, auf dem harten
Kachelboden zu landen, doch der gefürchtete Aufprall blieb aus ...
Jemand
stieß Gloriana mit
einem Stock oder einem Besenstiel an.
»Steh auf,
Junge«, befahl eine rauhe Männerstimme, »und mach, daß du fortkommst! Das hier
ist kein Armenhaus und auch keine Schenke.«
Als
Gloriana die Augen öffnete, erblickte sie einen Mann in einem schäbigen Wams
und wollenen Beinkleidern, der einen Schäferstab in der Hand hielt – ganz zweifellos
der Gegenstand, mit dem er sie gestoßen hatte. Sie lehnte an der Außenwand
einer groben Lehmhütte, die mit einem Dach aus geflochtenem Reisigstroh
versehen
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