Linksträger: Roman (German Edition)
momentan?«
Ich überlege kurz. Sollte ich vielleicht Frau Kuhlig-Semmrau in meinen Auftrag einweihen? Warum eigentlich nicht? Diese Frau ist so verstrahlt, vielleicht hat sie ja sogar eine Idee.
»Es gibt da tatsächlich etwas. Es ist mir aber ein wenig peinlich.«
»Nur raus damit.«
»Okay. Und zwar würde ich gerne wissen, wie man erkennen kann, ob sich ein Mann sexuell heimlich zu Männern hingezogen fühlt.«
Frau Kuhlig-Semmrau scheint überrascht, aber zufrieden mit meiner Frage.
»Sie stellen sich Ihren Urängsten. Das ist guuut.«
»Nein, nein …« Ich recke den Kopf knapp über die Tischplatte. »Das sind nicht meine Urängste. Es ist eher eine Art wissenschaftliche Forschung.«
»Ahhh.« Frau Kuhlig-Semmrau lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und verschwindet so wieder aus meinem Blickfeld. Lediglich ihre Stimme dringt zu mir. »Das ist guuut, Herr Süßemilch. Sie öffnen sich und Ihr Innerstes. Das ist guuut. Seit wann verspüren Sie diese Veranlagung?«
»Seit wann ich diese Veranlagung spüre? Wie gesagt, es geht hier nicht um mich. Es geht vielmehr um … einen Freund.«
»Natürlich.« Die Stimme der blauen Fee klingt irgendwie zynisch. »Der vielzitierte Freund. Wie immer. Dann lassen Sie uns mal über Ihren Freund reden.«
Bei dem Wort Freund schreibt Frau Kuhlig-Semmrau mit beiden Händen Anführungszeichen in die Luft, die ich sogar aus meiner Froschperspektive erkennen kann.
Ach, scheiß drauf, soll sie doch denken, was sie will.
»Also, mein Freund steckt allem Anschein nach in einer verzwickten Lage und kann sich nicht outen, da er …«
»… ein Kind von einer Frau erwartet?«, beendet Frau Kuhlig-Semmrau den Satz. Ich überlege kurz. Richtig, Falco und Nora bekommen ein Kind, genau wie Jana und ich.
»Äh, ja, schon, aber es ist wirklich nicht so, wie Sie denken.« Ich schüttele den Kopf und spreche gegen eine Hartholzplatte vor meinen Augen. Diese Kinderbank ist echt zum Kotzen.
»Natürlich nicht. Fahren Sie fort.«
»Jedenfalls wollte ich wissen, ob man durch irgendwelche Verhaltensweisen oder Äußerlichkeiten erkennen kann, ob mein Freund schwul ist oder nicht. Wissen Sie, ich würde ihm gerne bei seinem Coming-out helfen.«
»Lassen Sie mich überlegen.«
Für gut zwei Minuten geschieht gar nichts, und ich überlege bereits, ob sie vielleicht hinter dem Schreibtisch eingeschlafen ist. Blau kann ja eine ziemlich beruhigende Farbe sein.
Doch dann erhebt sie wieder ihre Stimme: »Na ja, es gibt einige Theorien. Eine ganz aktuelle besagt sogar, dass man vom Ablegen gewisser Körperteile Rückschlüsse auf die sexuelle Orientierung eines Mannes schließen kann.«
»Ablegen von Körperteilen?«, wiederhole ich sichtlich überrascht. »Sie meinen das Ablegen von Prothesen bei Behinderten?«
»Nein, nicht solche Körperteile. Ich spreche von echten Körperteilen. Sie erinnern sich vielleicht aus der Schulzeit daran, was man zu einem Jungen sagte, wenn er sich ein Ohrloch schießen ließ.«
Ich zucke mit den Schultern.
»Ich will es Ihnen verraten. Man hörte oft den Spruch: Links ist cool, und rechts ist schwul. Nun fand man heraus, dass dieser so lax ausgesprochenen Behauptung tatsächlich eine erstaunlich reale Komponente innewohnt.«
»Sie wollen mir jetzt nicht sagen, dass man wirklich anhand des Ohrrings erkennen kann, ob ein Mann schwul ist?«
»Nein, natürlich nicht …«
»Ich dachte schon.«
Ich lache auf, und Frau Kuhlig-Semmrau schweigt einen Moment, dann spricht sie weiter.
»… jedenfalls nicht am Ohrloch …«
»Sondern?«
»Nicht die Seite des Ohrrings war Gegenstand der Untersuchung, sondern die Seite des Tragens des männlichen Geschlechtsorgans in der Unterwäsche. Irgendwo muss der kleine Freund ja nun mal hin. Die Frage war also: Auf welcher Seite trägt Mann seinen Penis, und wie positioniert er ihn dort?«
Ich glaube, nicht richtig zu hören, und tauche hinter dem Schreibtisch auf. »Sie verarschen mich doch jetzt, oder?«
»Keinesfalls, Herr Süßemilch. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Praktiken es gibt, um den Penis zu verstauen. Ich war ebenso erstaunt.«
»Moment, ich muss das noch mal wiederholen. Sie meinen, es gibt da verschiedene Techniken. So wie beim Origamifalten?«
»Origamifalten? Das ist guuuut. Ein schönes Beispiel, Herr Süßemilch. Und durchaus passend.« Der Vergleich gefällt Frau Kuhlig-Semmrau sichtlich, und sie notiert ihn auf einem Notizblock. »Es gibt zum Beispiel Männer, die ihr Genital, mithilfe des
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