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Linksträger: Roman (German Edition)

Linksträger: Roman (German Edition)

Titel: Linksträger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Boltz
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Toilettengang über einen der Säcke ab und versinke sogleich bis zu den Schultern darin. Auch das Nachpositionieren mithilfe heftigen Armeinsatzes hilft nichts und lässt mich nur noch tiefer in die endlose Weite der orangefarbenen Hölle sacken.
    Es folgen zwei Minuten ungleichen Kampfs zwischen Mensch und Granulatsack, bis ich mich dazu entschließe, mich wie bei einem Lawinenunglück einfach treiben zu lassen. Ich mache mich ganz leicht, entspanne die Muskeln und versuche, mich aus der orangefarbenen Hülle hinausgleiten zu lassen. Es ist tatsächlich wie bei einem klassischen Toilettengang: Der Inhalt flutscht doch am besten, wenn man einfach lockerlässt. Nur bin ich gerade mein eigener Stuhlgang. So entspannt entgleitet der erste Teil von Robert der Wurst in Form von zwei Beinen aus der Dunkelheit hin zum Licht.
    »Das ist guuuut. Ist es nicht ein ganz zauberhaftes Gefühl?«, vernehme ich die Stimme einer Frau, während ich noch am Boden strampele. Da ich jedoch mit dem Kopf noch im Granulatsack stecke, kann ich nichts sehen, aber es muss sich wohl um Frau Kuhlig-Semmrau handeln.
    »’tschuldigung, ich, äh, will mich nur befreien …«
    »Ja, das ist guuuut. Befreiung ist wichtig.« Ihre Stimme klingt hypnotisierend. »Wissen Sie, die Signalfarbe Orange stimuliert die Kreativität und regt gleichzeitig die Verdauung an, bringt sie in Fluss.«
    »Die Verdauung? Ja, das habe ich gemerkt …« Ich setze meinen humanoiden Toilettengang fort und kämpfe auch mein Schultern zurück ins Leben.
    »Spüren Sie auch die Einzigartigkeit des organischen Materials, das Sie umschließt?«
    »Ne, ich seh nix.«
    »Das handgegerbte Leder ist von heiliger Kraft. Es wurde aus dem wertvollen Glutaeusleder von tibetischen Yaks gewonnen.«
    »Glutaeusleder?«, frage ich und winde dazu den restlichen Teil meines Körpers aus dem toten Yak.
    Ich blicke auf und sehe zunächst nur ein Stoffwunder auf zwei Beinen. Ganz und gar in blauen Tüll gewandet. Eine Fata Morgana des Wartezimmers.
    »Glutaeus maximus. Der große Gesäßmuskel.«
    »Gesäßmuskel?« Ich zucke irritiert zurück. »Sie meinen, ich bin gerade aus dem ledrigen Arsch eines tibetischen Hochlandrinds gekrochen?«
    »Ich würde es vielleicht etwas anders bezeichnen, aber ja, so in etwa. Eine epische Erfahrung, nicht wahr? Aber das ist noch nicht alles. Das Besondere an den Sitzsäcken ist die Tatsache, dass sie in ihrer organischen Form dem weiblichen Mutterleib nachempfunden sind. Haben Sie diesen uterusähnlichen Zustand nicht als herrlich wärmend und behütet empfunden?«
    »Eigentlich nicht. Es war eher irgendwie beängstigend.«
    »Beängstigend? Das ist guuuut, denn Sie haben die Angst besiegt und sich durch den Geburtskanal gezwängt. Sich neu geboren. Sie sind ein Sieger, Herr Süßemilch.«
    Noch immer am Boden wiege ich den Kopf hin und her. Ich habe dank des Arschleders da eine ganz eigene Wahrnehmung gehabt.
    »Ehrlich gesagt habe ich mich eher wie … wie, na ja … Das ist mir etwas peinlich. Jedenfalls wie etwas ganz anderes gefühlt.«
    »Nur raus damit, Herr Süßemilch. Lassen Sie die gesellschaftlichen Normen einfach hinter sich. Schütteln Sie sie einfach ab. Es gibt in diesen Räumen keine Tabus.«
    »Okay. Abschütteln ist da übrigens ein gutes Stichwort. Ich habe mich nämlich eher wie ein Stück Kackwurst gefühlt, das dort dringend rauswill.«
    »Kack-Wurst?«, wiederholt Frau Kuhlig-Semmrau jede einzelne Silbe, und ich hoffe, dass ich ihr damit nicht zu nahe getreten bin. »Sie meinen Stuhl?«
    »Nein, ich meine den Sitzsack.«
    Ich deute auf das orangefarbene Arschleder.
    »Nein, Herr Süßemilch, ich meinte, dass Sie sich wie Stuhl, also Kot gefühlt haben.«
    »Ach so, ja, genau.« Wieder nicke ich.
    Und Frau Kuhlig-Semmrau nickt überraschenderweise ebenfalls. »Das ist guuuut. So habe ich das noch nie betrachtet. Aber Sie haben recht. Manchmal fühlt sich das Leben tatsächlich einfach nur beschissen an. Dann muss man kämpfen und sich quälen, um sich aus der Dunkelheit zu befreien.«
    »Ja, raus aus der Dunkelheit, genauso war es.«
    »Ein schöner Vergleich, Herr Süßemilch.«
    »Danke.« Ich knie noch immer wie ein junger Messdiener am Altar und schaue den blauen Engel verzückt an. Verdammt, vielleicht bringt das hier ja tatsächlich was. Immerhin versteht mich die blaue Frau wirklich.
    »Robert?«
    Jana ist zurück im Wartezimmer und mustert mich sichtlich erstaunt.
    »Es ist alles okay, Schatz. Frau Kuhlig-Semmrau und ich haben

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