Lisa geht zum Teufel (German Edition)
er.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und überlegte, ob jenes Mitleid mit jemandem, der so niederträchtig sein konnte, bereits eine Art Vorstufe war, um ihm tatsächlich irgendwann verzeihen zu können. »Auf jeden Fall sehe ich ihn in einem anderen Licht. Mit rosa Putten, die um sein Haupt schwirren. In seinem Fall wohl eher blonde Engelchen, die er dann vernascht«, entgegnete sie.
Rafael musste herzhaft lachen, und das war ziemlich ansteckend.
Es gab einen Aspekt an Madrid, den Rafael auch heute noch so schätzte wie früher. Das war die Art, wie man hier ausging. Man verabredete sich nicht in irgendeinem Restaurant, um darin den ganzen Abend zu verweilen, sondern zog durch die Viertel, von einem Restaurant zum anderen. Einen Wein hier, ein paar Tapas dort, ein Bier woanders. Zumindest was die Nahrungsaufnahme betraf, gab es dafür eine logische Erklärung. Noch bis in die siebziger Jahre hinein war es üblich gewesen, dass sich ein Restaurant auf ein bestimmtes Gericht spezialisierte. In einem gab es Gambas, in einem anderen Paella, in einem dritten nur Fleischgerichte. Bei ihrem Bummel durch Chueca war ihm aufgefallen, dass diese Gepflogenheiten wieder in Mode kamen. Auch Lisa hatte dies bemerkt. Ob sie wirklich die Madridkennerin war, für die sie sich ausgab, gedachte Rafael herauszufinden. Obwohl Lisas Spanischkenntnisse hervorragend waren, war es ihm doch gelungen, sie an der Nase herumzuführen. »Aqui hay pulgas«, hatte er ihr vor einer Spelunke im Chueca-Viertel gesagt, die tatsächlich so aussah, als ob es dort Flöhe, »pulgas«, gäbe. Damit waren kleine belegte Brotscheiben gemeint, eine lokale Spezialität, die Lisa nun trotz ihrer anfänglichen Widerstände, in diesem »Verhau« zu essen, mit Wonne zu sich nahm.
»Also, hier hat sich viel getan«, meinte Lisa und blickte von ihrem an die Hauswand gepferchten Plastikstuhl aus auf die Fassaden der alten Häuser, die teilweise renoviert waren. Das rege Treiben und das bunte Publikum aus allen Schichten waren neu, genau wie die zahlreichen Boutiquen. Das Viertel war jetzt in, was offenkundig auch am Zuzug vieler gleichgeschlechtlicher Pärchen lag, die dem Viertel nicht nur Pep verliehen, sondern auch dafür sorgten, dass man hier besonders gerne ausging.
Sicher würde auch Carmen hier ihre Abende mit Freunden verbringen, überlegte Rafael. Sie hatte nicht viel Geld, und Ausgehen war in Chueca nicht teuer. Für jeden Geldbeutel war etwas Passendes dabei. Rafael spülte den melancholischen Gedanken an seine Tochter gleich mit einem weiteren kräftigen Schluck Wein hinunter. Die vielen pikanten Köstlichkeiten, die sie bisher schon zu sich genommen hatten, machten zudem ordentlich Durst. Lisa schien aber noch nicht satt zu sein.
»Ich möchte noch ein paar Tapas woanders probieren«, schlug sie vor, legte einen Geldschein auf den Tisch und nahm ausgelassen seine Hand, an der sie ihn ins nächste Lokal zog, das keine zehn Meter entfernt war.
»Hier gibt’s die besten Tapas«, schwärmte sie und bestellte am Tresen, wonach ihr war: iberischen Eichelschinken, Käseschnitten, eingelegte Oliven, Datteln im Speckmantel, marinierte Sardellen und in Knoblauch gebratene Garnelen. Ein Festmahl, dem Rafael, obwohl schon pappsatt, auch nicht widerstehen konnte.
»Warum heißen Tapas eigentlich Tapas?«, fragte sie plötzlich.
»Die hießen schon immer so«, mutmaßte Rafael, weil er es nicht wusste.
»Na, wegen der Fliegen«, rief ihnen der Ober, bei dem Lisa eben das dritte Glas Wein bestellt hatte, im Vorbeigehen zu. »Früher gab es hier eine regelrechte Fliegenplage. Um die Getränke vor ihnen zu schützen, hat man Brotscheiben daraufgelegt, als Abdeckung«, erklärte er.
»Ah, verstehe. Tapa, der Deckel«, sinnierte Lisa. Sie prostete ihm zu und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den penetranten Cante eines Sängers, der sich in der Flamencobar gegenüber die Seele aus dem Leib schrie. Rafaels Blick hingegen fiel auf die große Wanduhr über der Bar. Schon halb zwölf. Sie mussten sich sputen, wenn sie den letzten Zug zurück in den Süden noch erwischen wollten.
»Lisa. Der letzte Zug geht in einer Stunde«, sagte er, doch Lisa winkte nur ab.
»Dann nehmen wir eben den Zug morgen früh. Die Nacht ist noch jung, Raffi«, sagte sie, kicherte und stupste ihm dabei mit dem Zeigefinger an die Nase, die sie beim zweiten Anlauf auch traf.
Raffi? Zuletzt hatte man ihn in der Schule so genannt, und genauso fühlte er sich jetzt. Weggehen und einfach
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