Lisa
nicht wie er. Der unglückliche Mensch hat sich keine warme Mahlzeit gegönnt, wenn er sich nicht irgendwie körperlich betätigt hatte an dem Tag. Spazierengehen, Wandern, Schwimmen, was auch immer, aber etwas musste geleistet werden, erst dann gab es die Belohnung. Ein Stück Kuchen: vorher wandern. Auswärts essen gehen: zweistündige Radtour. Urlaub? Vier Besichtigungen am Tag. So war der.
Diese Lust- und Genussfeindlichkeit meiner Eltern, denn meine Mutter war nicht anders, und bis heute wundere ich mich, wie sie es zuwege gebracht hat, ein Kuckuckskind zu produzieren, diese Lustfeindlichkeit ist mir schon als Kind auf die Nerven gegangen. Leistung, Leistung, immer Leistung, die Leute fallen so leicht in Extreme. Sie wollen schlank sein, also machen sie sich dürr, sie wollen etwas erschaffen, also hetzen sie sich hundert Stunden die Woche ab, sie wollen Freunde, also versinken sie bei Facebook, sie wollen ein bisschen Gemütlichkeit, also saufen sie sich die Birne weg.
Obwohl, ihr wisst ja, was Dean Martin gesagt hat, er hat gesagt, solange ein Mann am Boden liegen kann, ohne sich festhalten zu müssen, ist er nicht betrunken.
…
Trinken hat die Folge, die meist erwünschte Folge, dass ihr nicht mehr … na wie sag ichs … dass ihr nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag mit euch allein seid. Das ist so anstrengend. Ich habe keine großen Probleme mit mir, aber das ist so anstrengend.
…
Ich glaube, es wird bald hell.
Wieso schickt mir eigentlich kein Mensch E-Mails? Zehnmal täglich checke ich meinen Account, und da steht immer nur fett, Posteingang null. Eigentlich ist das unmöglich, ich kriege sonst jeden Tag zwanzig. Was da wieder los ist.
Ich frage mich, wie wir früher ohne Handy und Internet gelebt haben. Absurd! Wenn wir etwas von jemandem wollten, haben wir ihn am Festnetz angerufen. Wenn er nicht da war, war er nicht da. Manchmal haben wir jemanden tagelang nicht erreicht. Und wenn wir ihm eine Nachricht zukommen lassen wollten, haben wir einen Brief geschrieben.
Einen Brief schreiben! Wann bitte habe ich das letzte Mal einen Brief geschrieben? Neunzehnhundertirgendwas?
Ich muss sagen, ich bin richtig froh, dass wir nicht mehr in den Achtzigern leben. Handy ist gut. Internet ist gut. Modernität ist gut, und ich sags noch einmal, die ganzen Kulturjammerer sollen sich zu Hause einsperren, die Jalousien runterlassen, am besten die Fenster mit Brettern vernageln und dann die Decke über den Kopf ziehen.
Ach ja, ganz vergessen … Am Nachmittag habe ich Beneangerufen. Als ich ihn fragte, ob er mal bei mir zu Hause vorbeifährt, hat er zwar nur gegrunzt, aber es war ein Ja-Grunzen. Hätte ich mir nicht gedacht. Der entpuppt sich glatt als Kriegsbraut.
Wisst ihr, was das ist, eine Kriegsbraut? Eine Kriegsbraut ist eine, die in schlechten Zeiten stark ist, die den Laden zusammenhält, auf die ihr euch verlassen könnt. Katha war eine, und Veronika, mit der ich davor zusammen war, die war das Gegenteil.
Als ich damals meinen Job verloren habe und krank geworden bin, hat Katha kein einziges Mal gejammert. Sie hat von einem Tag auf den anderen alle Probleme, die wir miteinander durchaus hatten, zurückgestellt, alle Kräfte gebündelt und mich eine Weile in meinem Zimmer in Ruhe gelassen. Wenn ich sie gebraucht habe, war sie da. Nach vier Monaten hatte ich den neuen Job, war gesund und stand besser da als vorher. Ohne sie – ich weiß nicht, wie alles gekommen wäre. Sie war die Größte.
Und Veronika, ein Blatt im Wind. Wenn ich im Urlaub irgendwo im hintersten Griechenland plötzlich Fieber gekriegt habe, hat es nur geheißen, und wie soll ich jetzt allein auf Valentina aufpassen? Sie hat eine kleine Tochter gehabt, von einem verlotterten Bankbeamten, der nur gesoffen und sich um nichts gekümmert hat und dann auch noch rausgeflogen ist und natürlich keine Alimente mehr. Wann, glaubst du, bist du denn wieder so weit, dass du auf sie aufpassen kannst? Ihr liegt halb im Delirium auf einem verwanzten Bett, draußen und drinnen und in euch selbst hat es vierzig Grad, ihr ächzt und fragt euch, ob ihr es überlebt.
Ihr kennt das sicher, wenn das Fieber sehr hoch ist, taucht im Hinterkopf immer kurz die Frage auf, ob sich das ausgeht.Danach findet ihr den Gedanken ein wenig kindisch, doch in der Situation findet ihr das nicht kindisch, ihr fragt euch, ab wann das Hirn anfängt zu kochen, und nach einiger Zeit fragt ihr euch gar nichts mehr, was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass das Hirn
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