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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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waren, die in den hellen Sonnenstrahlen schwebten. Ihr Finger zitterte, und sie flüsterte: »Seht! Seht! Mein Kind!«
    Wir Mädchen schauten hin, doch als die Federn alle zu Boden gesunken waren, war nichts zu sehen. Das Mädchen ohne Namen lächelte einen hellen Sonnenstrahl an, der auf den sauberen, grau gestrichenen Boden fiel. Tränen tropften aus ihren Augen. »Mein Kind«, sagte sie und streckte die Arme nach dem Lichtstrahl aus. Ich sah, wie ihre Finger zitterten.
    Ich schaute zu Yevette und dem Sarimädchen. Das Sarimädchen sah zu Boden. Yevette zuckte mit den Schultern. Ich schaute wieder zu dem Mädchen ohne Namen und fragte: »Wie heißt dein Kind?«
    Das Mädchen ohne Namen lächelte. Ihr Gesicht strahlte. »Sie heißt Aabirah. Sie ist meine Jüngste. Ist sie nicht schön?«
    Ich sah zu der Stelle, auf die sie schaute. »Ja. Sie ist reizend.« Dann sah ich Yevette mit aufgerissenen Augen an. »Sie ist doch reizend, Yevette?«
    »Oh. Klar. Und wie. Richtige Herzensbrecherin. Wie heißt, sagst du?«
    »Aabirah.«
    »Klingt schön. Hör mal, Aa-bi-rah, kommst mit und hilfst Hühner aus Scheune jagen?«
    Und so fingen Yevette und das Sarimädchen und die jüngste Tochter des Mädchens ohne Namen an, die Hennen aus dem Gebäude zu scheuchen. Ich saß da und hielt die Hand des Mädchens ohne Namen. Ich sagte: »Deine Tochter ist eine große Hilfe. Sieh nur, wie sie die Hennen jagt.« Das Mädchen ohne Namen lächelte. Ich lächelte auch. Ich glaube, wir beide freuten uns, dass sie ihre Tochter zurückhatte.
    Wenn ich den Mädchen zu Hause diese Geschichte erzählen würde, wäre eines der neuen Wörter, die ich ihnen erklären müsste, »Improvisieren«. Wir Flüchtlinge sind sehr gut darin. Wir haben nicht die Dinge, die wir brauchen - beispielsweise unsere Kinder -, und sind sehr geschickt darin, aus wenig etwas zu machen. Seht nur, was das Mädchen ohne Namen aus einem kleinen Flecken Sonnenlicht machte. Oder wie das Sarimädchen die ganze Farbe Gelb in eine leere, durchsichtige Plastiktüte packte.
    Ich legte mich aufs Bett und schaute zu den Ketten hoch. Ich dachte, der Sonnenschein, diese Farbe Gelb, vielleicht werde ich davon nicht mehr viel sehen. Vielleicht war Grau die neue Farbe meines Lebens. Zwei Jahre in dem grauen Abschiebegefängnis, und nun war ich eine illegale Einwanderin. Das heißt, man ist frei, bis sie einen fangen. Das heißt, man lebt in einer Grauzone. Ich überlegte, wie ich leben würde. Ich dachte an die Jahre, in denen ich so still wie möglich leben, meine Farben verbergen und in Zwielicht und Schatten leben würde. Ich seufzte und versuchte, tief durchzuatmen. Ich wollte weinen, als ich zu den Ketten hinaufsah und an die Farbe Grau dachte.
    Ich dachte, wenn der Chef der Vereinten Nationen eines Morgens anriefe und sagte: Sei gegrüßt, Linie Bee, dir wird die große Ehre zuteil, eine Nationalflagge für alle Flüchtlinge dieser Welt zu entwerfen, dann wäre die Flagge, die ich entwerfen würde, grau. Man würde keinen besonderen Stoff dafür brauchen. Ich würde sagen, die Flagge könnte jede beliebige Form haben und aus allem bestehen, was gerade zur Hand war. Ein abgetragener alter BH, beispielsweise, der vom vielen Waschen grau geworden ist. Man könnte ihn vom Ende eines Besenstiels flattern lassen, wenn man keinen Fahnenmast hat. Wenn man aber einen Fahnenmast hat, zum Beispiel einen in der Reihe der großen weißen Fahnenmasten vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York City, dann würde der alte graue Büstenhalter in der langen Reihe bunter Flaggen ein wunderbares Spektakel abgeben. Er würde zwischen dem Sternenbanner und der großen, roten chinesischen Flagge wehen. Das wäre ein toller Trick. Ich musste lachen, als ich darüber nachdachte.
    »Was zum Teufel lachst du, Käfer?«
    »Ich habe über die Farbe Grau nachgedacht.«
    Yevette runzelte die Stirn. »Nicht du auch verrückt werden, bitte, Käferlein.«
    Ich legte mich wieder aufs Bett und schaute zur Decke hoch, sah aber nur die langen Ketten, die herunterbaumelten. Ich dachte, daran könnte ich mich erhängen, kein Problem.
    Am Nachmittag kam die Frau des Bauern. Sie brachte uns zu essen. Brot und Käse in einem Korb und ein scharfes Messer zum Brotschneiden. Ich dachte, wenn die Männer kommen, kann ich mir die Adern mit dem Messer aufschneiden. Die Frau des Bauern war freundlich. Ich fragte sie, warum sie so gut zu uns sei. Sie sagte, weil wir alle Menschen seien. Ich sagte: Verzeihen Sie, Miss, aber

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