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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Urin. Er war so kalt wie der gestrichene Betonboden. Eine Pfütze hatte sich unter dem Mädchen ohne Namen gesammelt. Ich schaute hoch und sah einen einzelnen Urintropfen am großen Zeh ihres nackten Fußes hängen, der funkelnd zu Boden fiel. Ich stand schnell auf. Der Urin machte mich schrecklich niedergeschlagen. Ich wollte die anderen Mädchen nicht wecken, weil sie ihn dann auch sehen würden, und dann würden wir ihn alle sehen, und keine von uns könnte es mehr leugnen. Ich weiß nicht, warum mich die kleine Urinpfütze zum Weinen brachte. Ich weiß nicht, warum der Verstand ausgerechnet an solch kleinen Dingen zerbricht.
    Ich ging zu dem Bett, in dem das Mädchen ohne Namen geschlafen hatte, und nahm ihr T-Shirt. Damit wollte ich den Urin aufwischen, doch dann entdeckte ich die durchsichtige Plastiktüte mit den Dokumenten am Fußende. Ich machte sie auf und fing an, die Geschichte des Mädchens ohne Namen zu lesen.
    Die-Männer-kamen-und-sie ... Ich weinte noch immer, und es war schwer, im dämmrigen Mondlicht zu lesen. Ich legte die Dokumente des Mädchens wieder zurück und verschloss sorgfältig die Tüte. Ich hielt sie ganz fest. Ich dachte, ich kann die Geschichte dieses Mädchens für mich selbst nehmen. Ich könnte die Dokumente und die Geschichte mit dem offiziellen roten Stempel nehmen, der beweist, dass sie WAHR ist. Vielleicht könnte ich meinen Asylantrag mit diesen Papieren genehmigt bekommen. Ich spielte eine Minute mit diesem Gedanken, doch während ich die Geschichte des Mädchens in meinen Händen hielt, schien die Kette lauter zu quietschen, und ich musste die Geschichte wieder aufs Bett legen, weil ich wusste, wie sie endete. In meinem Land hat eine Geschichte große Macht, und Gott steh dem Mädchen bei, das eine nimmt, die nicht ihr gehört. Also ließ ich sie auf dem Bett des Mädchens liegen, jedes einzelne Wort, mit allen Büroklammern und Fotos des Narbengewebes und den Namen der vermissten Töchter und der vielen roten Tinte, die besagte, dies sei BESTÄTIGT.
    Dann gab ich Yevette, die noch schlief, einen kleinen Kuss auf die Wange und ging leise über die Felder davon.
    Yevette zu verlassen war das Schwerste, was ich getan hatte, seit ich aus meinem Dorf weggegangen war. Doch wenn man ein Flüchtling ist und der Tod kommt, bleibt man nicht eine Minute an dem Ort, den er besucht hat. Nach dem Tod kommen viele Dinge - Traurigkeit, Fragen und Polizisten -, und von alldem sollte man sich fernhalten, wenn die Papiere nicht in Ordnung sind.
    Nein, für uns Dahintreibende gibt es keine Flagge. Wir sind Millionen, aber keine Nation. Wir können nicht zusammenbleiben. Vielleicht können wir einzeln oder zu zweit für einen Tag oder einen Monat oder sogar ein Jahr zusammenkommen, doch dann dreht sich der Wind und trägt die Hoffnung davon. Der Tod kam, und ich ging voller Angst davon. Mir bleibt nur meine Scham und die Erinnerung an bunte Farben und das Echo von Yevettes Lachen. Manchmal fühle ich mich so einsam wie die Königin von England.
    Es war nicht schwer zu erkennen, wohin ich gehen musste. London erleuchtete den Himmel. Die Wolken glühten orange, als brenne die Stadt, die mich erwartete. Ich ging bergauf, durch Felder mit irgendeinem Getreide und einen hohen Wald mit irgendwelchen Bäumen, und als ich zum letzten Mal auf den Hof hinuntersah, ging ein helles Licht vor der Scheune an, in der sie uns untergebracht hatten. Ich glaube, es war eine automatische Lampe, und mitten in ihrem Strahl stand als einzelner, zitronengelber Punkt das Sarimädchen. Sie war zu weit entfernt, als dass ich ihr Gesicht hätte erkennen können, doch ich stellte mir vor, wie sie verwundert blinzelte, als das Licht anging. Wie eine Schauspielerin, die versehentlich auf die Bühne gegangen ist. Wie ein Mädchen, das keine Sprechrolle hat, das denkt, warum haben die jetzt dieses helle Licht auf mich gerichtet?
    Ich hatte große Angst, doch ich fühlte mich nicht allein. Die ganze Nacht über war es, als würde meine große Schwester Nkiruka neben mir gehen. Ich konnte beinahe ihr Gesicht sehen, das im blassen, orangefarbenen Licht glühte. Wir gingen die ganze Nacht hindurch, über Felder und durch Wälder. Wir mieden die Lichter der Dörfer. Wann immer wir einen Bauernhof sahen, mieden wir auch ihn. Einmal hörten uns die Hofhunde und bellten, aber es geschah nichts. Wir gingen weiter. Ich hatte müde Beine. Zwei Jahre war ich im Abschiebegefängnis gewesen und nirgendwohin gegangen, und ich war schwach.

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